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Ein Attentat als "patriotische Pflicht"

Von Gerald Wolf

Wissen

Vor 80 Jahren zogen tschechoslowakische Agenten den SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich zur Rechenschaft.


Den Ort für ihr Vorhaben haben die Männer perfekt gewählt: eine Haarnadelkurve im Prager Stadtteil Libeň. Hier muss jedes Fahrzeug seine Geschwindigkeit stark verlangsamen. Genau an dieser Stelle warten Jozef Gabčík und Jan Kubiš, zwei Angehörige der tschechoslowakischen Exilarmee, auf ihr Opfer. In einiger Entfernung hat sich Josef Valčik positioniert. Mit dem Blinkzeichen eines Spiegels soll er die beiden anderen vom Herannahen des Mercedes-Benz-Typ-320-Cabrios mit dem Kennzeichen SS-3 informieren.

Das Opfer ist kein Geringerer als SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich. Als Chef des Reichssicherheitshauptamtes ist er in der SS-Hierarchie der zweite Mann nach Heinrich Himmler; als Organisator der Wannseekonferenz einer der Hauptverantwortlichen für die Shoah. Zugleich verantwortet er als stellvertretender Reichsprotektor von Böhmen und Mähren die brutale Okkupationspolitik in diesem Teil der einstigen Tschechoslowakischen Republik (ČSR).

Nach der im September 1938 im Münchner Abkommen erzwungenen Abtretung des Sudetenlandes von den Nazis nur mehr als "Resttschechei" verspottet, ist der tschechische Teil der ČSR seit März 1939 als Reichsprotektorat Böhmen und Mähren ein unter Kuratel des Deutschen Reiches stehendes Staatsgebilde; der slowakische Teil hat unter deutschem Druck seine Unabhängigkeit erklärt, ist de facto aber ebenfalls ein Satellitenstaat des Reiches. Regierung und Präsident des Protektorats sind kaum mehr als ausführende Organe des deutschen Reichsprotektors. Dieser soll vor allem für Ruhe und Ordnung sorgen und gewährleisten, dass die industriellen Kapazitäten des Protektorats der deutschen Kriegswirtschaft uneingeschränkt zur Verfügung stehen.

Reinhard Heydrich (7.3.1904-4.6.1942).
© corbis /Corbis via Getty Images

Unter Zugzwang

Auf dem Weg zum Hradschin, seinem Prager Amtssitz, fährt Heydrichs Wagen am 27. Mai 1942, einem Mittwoch, gegen 10:35 Uhr in die genannte Kurve ein. In diesem Moment richtet Gabčík aus nächster Nähe seine britische Sten-Maschinenpistole auf den Reichsprotektor und drückt ab. Doch es löst sich kein Schuss, die eigentlich äußerst zuverlässige Waffe versagt. Sofort befiehlt Heydrich seinem Fahrer anzuhalten, um auf Gabčík schießen zu können. Nahezu im selben Moment detoniert eine Bombe mit einem besonders wirksamen Spezialsprengstoff. Kubiš, der von Heydrich nicht bemerkt worden ist, hat sie geworfen.

Der Wagen Heydrichs in Prag nach dem Attentat am 27. Mai 1942.
© German Federal Archives, Public domain, via Wikimedia Commons

Die Bombe verfehlt das Wageninnere. Stattdessen detoniert sie beim Hinterrad der Beifahrerseite und beschädigt die Seitenwand des Wagens. Metallsplitter dringen in die Rückenlehne des Sitzes von Heydrich ein, verletzen Kubiš im Gesicht und lassen auch die Fenster einer Straßenbahn an der gegenüberliegenden Haltestelle bersten. Während Johannes Klein, Heydrichs Fahrer, Kubiš verfolgt, bricht Heydrich, der mittlerweile ebenfalls aus dem Wagen gesprungen ist und sich auf Gabčík zubewegt, plötzlich zusammen.

Durch die Explosion hat er einen Rippenbruch und einen Zwerchfellriss erlitten, zudem sind Splitter in seine Milz gelangt. Die tschechischen Straßenbahnfahrgäste sorgen dafür, dass Heydrich ins nur wenige hundert Meter vom Attentatsort entfernte Bulovka-Spital gebracht wird. Dort wird er sofort operiert. Auch Klein wird hier behandelt. Nachdem Kubiš ihm entkommen ist, hat er Gabčík verfolgt und von diesem einen Schuss ins Bein erhalten.

Heydrichs Genesung verläuft anfangs zufriedenstellend. Aber nach wenigen Tagen tritt eine rapide Verschlechterung seines Gesundheitszustandes ein, er fällt ins Koma und stirbt am 4. Juni 1942. Die Todesursache ist bis heute ungeklärt. Vermutlich sind durch die Explosion winzige Faserteile der Rosshaarpolsterung des Wagensitzes in das Körperinnere gelangt. Sie sind bei der Operation wohl unbemerkt geblieben und dürften schließlich eine Sepsis verursacht haben. "Operation Anthropoid", wie der Deckname des Unternehmens zu Heydrichs Ermordung lautet, ist damit doch noch zu einem erfolgreichen Ende gekommen.

"Es ist Eure patriotische Pflicht, Reinhard Heydrich zu töten!", schärft František Moravec, der Chef des militärischen Nachrichtendienstes der tschechoslowakischen Exilregierung in London, Gabčík und Kubiš am 1. Dezember 1941 ein. Beide verpflichten sich auch schriftlich dazu, wobei Ort, Zeit und Vorgehensweise ihnen überlassen bleiben.

Die Idee zum Attentat entspringt der Notlage, in welcher sich die erst im Juni 1941 von den Briten anerkannte tschechoslowakische Exilregierung unter Edvard Beneš befindet. Das ebenso brutale wie erfolgreiche Agieren Heydrichs hat den tschechischen Widerstand im Protektorat weitgehend erlahmen lassen. Soll das Vorhaben von Beneš, das Münchner Abkommen zu revidieren und die Tschechoslowakei als unabhängigen Staat nach einem Sieg der Alliierten wiedererstehen zu lassen, Realität werden, dann müssen die Alliierten durch einen spektakulären Erfolg davon überzeugt werden, dass auch die Tschechen bereit sind, ihren Teil zum Sieg über Hitlerdeutschland beizutragen. In enger Zusammenarbeit mit der Special Operations Executive, der britischen Spezialeinsatztruppe für subversive Kriegsführung, lässt Beneš daher alles für ein Gelingen des Attentats vorbereiten.

Grausame "Vergeltung"

Nach einem wochenlangen Spezialtraining springen Gabčík, Kubiš und noch weitere Agenten am 29. Dezember 1941 nachts nahe Prag mit dem Fallschirm aus einem viermotorigen Bomber ab. In sogenannten "sicheren Häusern" von Prager Familien, die sich dem Widerstand angeschlossen haben, verbringen die beiden die nächsten Monate. Sie kundschaften Heydrichs tägliche Routine minutiös aus. Bald finden sie heraus, dass er mit seinem Dienstwagen nahezu immer ohne Eskorte unterwegs ist; und dass er auch stets dieselbe Route fährt, um zu seinem Dienstort zu gelangen. Der dann durchgeführte Anschlag stellt sich aus ihrer Sicht zunächst aber als völliger Fehlschlag dar.

Der Ort des Fallschirm-Absprungs von Jozef Gabčík und Jan Kubiš in der Nähe von Prag.
© Jan Polák, CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

Noch am Nachmittag des 27. Mai trifft Kurt Daluege, der Chef der deutschen Ordnungspolizei, in Prag ein. Er ist entschlossen, ein abschreckendes Exempel zu statuieren. Zunächst aber muss man sich mit Hitlers Forderung, 10.000 Tschechen als "Sühne" für den Anschlag auf Heydrich zu erschießen, auseinandersetzen. Karl Hermann Frank, der Höhere SS- und Polizeiführer im Protektorat, bringt den "Führer" mit dem Hinweis auf einen in diesem Fall drohenden Volksaufstand davon wieder ab.

Das deutsche "Strafgericht" fällt aber auch ohne ein solches Massaker beispiellos aus. Noch in der Nacht auf den 28. Mai rücken 2.700 zusätzlich aufgebotene Ordnungspolizisten unter quasi gefechtsmäßigen Bedingungen mit Panzerfahrzeugen in das Protektorat ein. Prag wird hermetisch abgeriegelt und Haus für Haus durchsucht. Nicht weniger als 12.000 Einsatzkräfte sind daran beteiligt. Eine Ausgangssperre wird verhängt und eine Verhaftungswelle setzt ein. Allein bis 3. Juli 1942 werden 3.188 Personen verhaftet. 1.357 von ihnen werden von Standgerichten in Prag und Brünn zum Tode verurteilt und erschossen. 477 Menschen müssen nur deswegen sterben, weil sie das Attentat angeblich guthießen.

Bereits von 9. auf 10. Juni 1942 hat sich das wohl bekannteste Verbrechen im Zusammenhang mit dem Heydrich-Attentat ereignet: die Vernichtung der Bergarbeitersiedlung Lidice nahe Kladno. Den Bewohnern hatte man unterstellt, die Attentäter unterstützt zu haben. Alle 172 anwesenden Männer sind erschossen worden, die 198 Frauen sind in Konzentrationslager verbracht und die 98 Kinder zur Überprüfung einer möglichen "Eindeutschung" verschleppt worden. Die meisten der Kinder wurden später vergast. Das Dorf ist dem Erdboden gleichgemacht worden. Dasselbe Schicksal ereilt etwas später auch die wesentlich kleinere Ortschaft Ležáky. Zeitgleich mit dem Lidice-Massaker ist auch der Abtransport von 1.000 Prager Juden in das Vernichtungslager Majdanek erfolgt.

Die drei Attentäter haben sich angesichts der massiven Überwachungsmaßnahmen nicht mehr aus Prag absetzen können. Sie halten sich zusammen mit vier anderen Agenten in der orthodoxen Kirche St. Cyrill und Method versteckt. Karel Čurda, ein ebenfalls im Protektorat tätiger Agent, verrät sie an die Gestapo. Am 18. Juni 1942 kommen sie alle nach einem Feuergefecht mit deutschen Einheiten ums Leben. Gabčík, Valčik und zwei ihrer Kollegen harren bis zuletzt in der von der Feuerwehr gefluteten Krypta der Kirche aus. Angesichts ihrer ausweglosen Lage erschießen sie sich dort selbst.

Für Fritz Swoboda, einen in Brünn geborenen und in Wien aufgewachsenen SS-Mann, ist das Morden nach dem Sturm auf die Kirche lange noch nicht beendet. 1944 berichtet er seinem Zellengenossen in Fort Hunt am Potomac River, einer streng geheimen US-Militäreinrichtung, in der Kriegsgefangene zum Zweck der Informationsgewinnung systematisch abgehört werden, voller Stolz über das "Strafgericht", das dem Attentat ab 26. Juni 1942 in der SS-Kaserne im Prager Stadtteil Ruzyně (deutsch: Rusin) gefolgt ist.

Ambivalenter Erfolg

"Da waren ... Erschießungen am laufenden Band [...] die Gruppen von 12 Mann haben jeweils 6 Mann [ab]geführt und dann umgelegt. [...] Frauen haben wir auch erschossen [...] Und wenn da so Schwächlinge waren, dann [wurden] die in die Mitte genommen und [zur Erschießung] hochgehalten. Aber die doppelte Verpflegung und die 12 Mark [Prämie] hat sich der Mann schwer verdient, so 50 Weiber umlegen [sic!] in einem halben Tag. [...] Das ging [anfangs] auf die Nerven, ... dann wurde man stur, dann war es egal."

Ab 14. Juli war Swoboda, der sich für seine Untaten nie verantworten musste, an weiteren Exekutionen von insgesamt 275 Männern und Frauen beteiligt. Zweifel an seiner "nervenaufreibenden" Tätigkeit, bei der er auch noch lebenden Opfern den "Gnadenschuss" zu geben hatte, waren Swoboda aber nie gekommen.

Der "Erfolg" des deutschen Vorgehens war nach Swobodas Ansicht daran sichtbar, dass es in der "Tschechei ... seit 1943 ruhig [gewesen war]." Tatsächlich versetzten die Blutbäder der Monate nach dem Attentat der tschechischen Widerstandsbewegung einen Schlag, von dem sie sich nicht mehr erholte. Heydrichs Tod und die deutschen Repressalien sorgten aber für eine Stärkung der Position von Beneš im alliierten Lager. Das zeigte sich daran, dass das Münchner Abkommen annulliert wurde. Mit der Frage, ob dieser Erfolg den Preis von um die 5.000 Menschenleben wert war, wollten sich aber weder Beneš noch Moravec wirklich beschäftigen.

Eine Büste erinnet an Jozef Gabčík.
© Peter Repka (Bildhauer) - cc-by-3.0 - Peter Zelizňák (Foto), Public domain, via Wikimedia Commons

In der Nachkriegszeit wurden Straßen und eine slowakische Stadt nach den Männern des 27. Mai benannt, 1964 und 1975 Spielfilme über das Attentat gedreht. 1995 wurde in der Kirche, in der die Attentäter starben, das "Nationaldenkmal für die Helden der Heydrichiade" (tschechisch wird die Terrorwelle nach dem 27. Mai Heydrichiáda genannt) errichtet. Der Ort des Attentats wurde aber erst 2009 in das Gedenken mit einbezogen.

Hinsichtlich seiner Dimension und Intensität reichte der tschechische Widerstand während des Zweiten Weltkrieges nicht an den von anderen Nationen heran. Als Fazit bleibt aber, dass es nur der tschechischen Widerstandsbewegung gelang, einen NS-Topfunktionär durch ein Attentat zur Rechenschaft zu ziehen.

Gerald Wolf lebt und arbeitet als Historiker und Lehrer in Wien.