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Die angeblich letzte Hexe

Von Florian Gimpl

Wissen
Frans II. Francken bündelte in seinem Bild von 1607 die Vorstellungen, die man sich zu seiner Zeit von einem Hexensabbat machte.
© Kunsthistorisches Museum, Austria / CC BY-NC-SA 4.0 / www.europeana.eu/de/item/15502/GG_1070

Zu den Hexenprozessen halten sich hartnäckig falsche Vorstellungen - etwa die von neun Millionen Opfern.


War Anna Göldi, die vor 240 Jahren ihr Leben verlor, wirklich die letzte Frau, die in Europa wegen Hexerei hingerichtet wurde? Das könnte meinen, wer das 2021 erschienene Buch "Anna Göldi - geliebt, verteufelt, enthauptet" von Walter Hauser liest. Hauser stellt die 1782 im schweizerischen Glarus hingerichtete Göldi dabei als das letzte Opfer der europäischen Hexenverfolgung dar - obwohl seit 2005 das Historische Lexikon der Schweiz eindeutig festhält, dass Göldi als Giftmörderin hingerichtet wurde - nicht als Hexe.

Der Richter und Arzt Dr. Johann Jakob Tschudi warf seiner bereits vorbestraften Magd Göldi vor, seine zweitälteste Tochter vergiftet zu haben, und entließ sie umgehend, hielt den Vorwurf aber geheim. Göldi wiederum beschwerte sich bei Landammann und Pfarrer, fand bei ihnen aber kein Gehör. Als nach Göldis Wegzug das Gerücht kursierte, sie sei von Tschudi schwanger, sah sich dieser genötigt, den Kündigungsgrund publik zu machen, was zur Verurteilung und Hinrichtung Göldis wegen Giftmischerei führte, wie der Hexenforscher Manfred Tschaikner Anfang Juni in einem Interview mit der Zeitung "Südostschweiz" darlegte.

Folter als Beweis

Petrus Binsfeld: "Tractat von der Bekanntnuß der Zauberer und Hexen" (1602).
© Public domain / via Wikimedia Commons

Von den für das Delikt der Hexerei konstitutiven Elementen war in Anklage und Vernehmungsprotokollen keine Rede: Seit circa 1500 bestand das Hexereidelikt in der elaborierten Vorstellung aus den fünf Tatbestandsmerkmalen Schadenzauber, Teufelspakt und Teufelsbuhlschaft, Hexenflug und Hexensabbat. Folglich mussten die Beschuldigten außer dem Schadenzauber - der Mensch, Tier oder beispielsweise die Ernte treffen konnte - noch den Teufelspakt, der durch Geschlechtsverkehr mit dem Teufel, die Teufelsbuhlschaft, besiegelt wurde, und die Teilnahme am Hexensabbat gestehen, dem geheimen Treffen der Hexen mit ihren Teufeln, zu denen sie mittels Hexenflug reisten. Erreicht wurden diese Geständnisse oftmals durch Folter, die in der frühen Neuzeit noch als Königin der Beweise galt.

Diese grausame Behandlung von Verdächtigen hatte wesentlichen Anteil an der Ausweitung der Verfolgungen im 16. und 17. Jahrhundert, denn - so hielt ein zeitgenössischer Kritiker der Hexenverfolgungen fest - unter der Folter würde selbst der Papst einen Teufelspakt gestehen, um die Schmerzen zu beenden. Die erzwungenen Geständnisse mussten freiwillig wiederholt werden, um vor Gericht gültig zu sein - was oft nur eine Formsache war, drohte doch sonst die erneute Folter. Deren Ziel war ein Geständnis, nicht der Tod der Angeklagten, denn man war der Meinung, dass Menschen unter Schmerz nicht lügen könnten - außer sie waren mit dem Teufel im Bunde.

Die Gerichte waren überwiegend mit örtlichen Vertretern der Obrigkeiten besetzt; Geistlichen kam meist nur die Funktion der Beichtväter zu. Angetrieben wurden die Prozesse in vielen Regionen durch starken Verfolgungsdruck aus der einfachen Bevölkerung, die für ihr Unglück - Ernteausfälle, Krankheit und Tod bei Tier und Mensch - Hexen verantwortlich machte, die angeblich mit dem Teufel, dem Feind der Christenheit, im Bunde waren. Somit überrascht nicht, dass neben der Schädigung von Mensch und Tier das "Wettermachen" - das Erzeugen von Unwettern - ein häufig erhobener Vorwurf war.

"Wie in Inquisition Sachen des grewlichen Lasters der Zauberey (...) zu procediren", von Heinrich von Schultheiß (1634).
© Public domain / via Wikimedia Commons

Erhaltene Gerichtsprotokolle geben dabei Einblick in volksmagische Vorstellungen: So stellte man sich vor, durch das Umleeren von Wasser in verschiedene Gefäße würde mit teuflischer Hilfe analog im Himmel dasselbe geschehen und die Wolken würden sich in Form von Regen oder Hagel auf die Felder ergießen. Aus heutiger Sicht erscheinen diese Vorstellungen naiv, doch damals waren selbst der intellektuellen Oberschicht die Naturgesetze weitgehend unbekannt und solche Schlüsse keineswegs abwegig. Bis heute halten sich diverse volksmagische Riten und Vorstellungen, für deren Sinnhaftigkeit es keine rationale Erklärung gibt (zum Beispiel das sprichwörtliche "auf Holz Klopfen").

Gegen Außenseiter

Als Hexe oder Hexer verfolgt wurden - mit regionalen Ausnahmen - oft Menschen, die am Rande der Gesellschaft standen und einen zweifelhaften Ruf hatten. Dabei handelte es sich im deutschsprachigen Raum meist um Frauen, oft in vorgerücktem Alter und verwitwet oder alleinstehend.

Jedoch nicht nur, wie die "Zauberer-Jackl-Prozesse" im Salzburg des 17. Jahrhunderts zeigen, während derer über 200 Menschen der Hexerei angeklagt und über 100 - zu über zwei Drittel männliche Kinder oder Jugendliche zwischen zehn und zwanzig Jahren - hingerichtet wurden, wie Gerald Mülleder in einer 2009 erschienenen Studie zeigte. Sie waren Landstreicher oder Bettler und ihnen wurde vorgeworfen, von Jakob Koller - genannt "Zauberer Jackl" - für den Teufel angeworben worden zu sein und mit ihm gemeinsam magische Schädigungen begangen zu haben.

Diese Prozessserie ist für das späte 17. Jahrhundert ungewöhnlich umfangreich, da damals große Massenprozesse bereits eine Seltenheit geworden waren. Betrieben wurde sie vor allem von der Obrigkeit des Landes, um - so steht zu vermuten - die ländliche, bettelnde Unterschicht zu beseitigen. Um materielle Bereicherung durch Konfiskation des Vermögens der Verurteilten ging es hier nicht. Dieses Motiv spielte aber auch anderswo nur in Ausnahmefällen eine Rolle, denn Hexenprozesse waren teuer und aufwendig. Deshalb waren sie den Obrigkeiten meist ein Dorn im Auge und wurden so gut wie möglich unterdrückt.

Je schwächer die Obrigkeit war und je mehr sich die Vorstellung des Hexensabbats durchsetzte, umso stärker wuchs der Verfolgungsdruck von unten. Die Hexen sahen einander ja am Hexensabbat und mussten einander daher kennen, also brauchte man nur eine zum Sprechen bringen, um die Namen der anderen zu erfahren - nötigenfalls eben mit Gewalt, bis die Verdächtigen gestanden, starben, aus Verzweiflung Selbstmord begingen oder mangels Beweisen freigelassen wurden.

Der "Hexenhammer" oder "Malleus maleficarum" in einer Ausgabe von 1574. Als Autor wird Jakob Sprenger genannt, dessen (Mit-)Autorschaft unklar ist.
© Public domain / via Wikimedia Commons

Wollte jemand nicht gestehen, so galt er als verstockt, was bedeutet, dass der Teufel ihm den Mund verschlossen habe - erst recht ein "Schuldbeweis". Wurden verstockte Angeklagte verurteilt, so wurde ihnen die "Erleichterung" einer Exekution mit dem Schwert vor der Verbrennung nicht zuteil, sondern sie mussten im Feuer sterben.

Dass der berüchtigte "Hexenhammer" des Dominikanermönchs Heinrich Kramer als Handbuch zur Hexenverfolgung gedient habe, ist falsch: Wie Wolfgang Behringer einleitend in seiner kommentierten Neuübersetzung festhält, fasste Kramer bestehende Ideen und Vorstellungen aus Häretiker-Verfolgungen des 15. Jahrhunderts zusammen und gab ihnen durch seine Ausführungen eine neue, stellenweise auffallend frauenfeindliche Schärfe. Als Grundlage für einen Gerichtsprozess taugte Kramers Traktat aber nicht: Vor den Gerichten kamen weltliche Gesetze zur Anwendung, zum Beispiel die berühmte "Peinliche Gerichtsordnung" Kaiser Karls V. von 1532. Sie stellte nur den Schadenzauber unter Todesstrafe, nicht jedoch den sonstigen Gebrauch von Magie.

Anzahl der Opfer

Die Theorie der neun Millionen Opfer der europäischen Hexenverfolgungen kam erst nach dem Ende der Verfolgungen auf und stammt vom Quedlinburger Stadtsyndikus Gottfried Christian Voigt (1740-1791), dem die von Voltaire vermutete Zahl von 100.000 Hinrichtungen zu gering schien, wie Behringer in einem Aufsatz 1998 darlegte. Voigt nahm auf Grundlage von erhaltenen Akten aus den Jahren 1569 bis 1598 in Quedlinburg 40 Hinrichtungen an, errechnete so für ein Jahrhundert 133 Hinrichtungen - ohne auch nur irgendeinen Beweis dafür, dass außerhalb des Ausgangszeitraumes überhaupt Hexenprozesse stattgefunden hatten - und kam durch eine Hochrechnung für ganz Europa auf die Zahl von 9.442.994 getöteten Hexen.

Bei seinen Zeitgenossen fand er damit nur wenig Beachtung, dafür wurde die Zahl umso bereitwilliger im Kulturkampf Bismarcks gegen die katholische Kirche aufgegriffen, obwohl seriöse Historiker schon damals an der Zahl zweifelten. Im 20. Jahrhundert verhalfen ihr die Nazis endgültig zum Durchbruch, vor allem deren Chefideologe Alfred Rosenberg, der wie Vertreter des völkischen Feminismus die Kirche hinter der systematischen Ausrottung "blonder Frauen und Mütter" vermutete.

Nach dem Ende der NS-Diktatur wurde die Zahl vom neuheidnisch-esoterischen Milieu und dem radikalen Feminismus aufgegriffen. Mit neuen Fantasiezahlen von bis zu 13 Millionen Opfern sollte sogar noch die Shoah, der Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden, "übertroffen" werden.

Viel Unsinn

Brachte der Feminismus die Hexenforschung zweifellos weiter, so wurde und wird er oft gemeinsam mit dem Verweis auf die Freiheit der Kunst genutzt, um die Erzählung von der angeblichen Unterdrückung und Ermordung von Millionen Frauen durch patriarchalische Akteure zu stützen. Zuletzt war dies 2021 im Innsbruck der Fall, wo eine Ausstellung unter dem Titel "Hexen" die Verfolgung ebendieser als großangelegte Aktion von "Kirche und Nationalstaaten" zur "kapitalistischen Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen" interpretierte und sich dabei auf die abenteuerlichen Thesen der Philosophin und Aktivistin Silvia Federici berief. Mediale Gegenstimmen gab es anfänglich keine. Im Oktober 2021 folgte eine sachlichere Darstellung im "Standard".

Anna Göldi war weder eines der angeblichen neun Millionen Opfer, noch wurde sie als Hexe hingerichtet. Unter Einbeziehung von Lücken und des Quellenschwundes kommen seriöse Forscher auf 40.000 bis 70.000 Hinrichtungen wegen Hexerei im Heiligen Römischen Reich zwischen 1500 und 1750. Freisprüche und Verurteilungen zu geringeren oder anderen Strafen gab es ebenfalls. Es ist wohl tatsächlich so, wie H.C. Erik Midelfort bereits 1968 festhielt, dass nämlich auf dem Gebiet der Hexenforschung "mehr Unsinn literarischen Niederschlag gefunden [habe] als auf jedem anderen Gebiet der Geschichte".

Schließlich zeigt der Fall Göldi, dass hinter solchen Mythen auch wirtschaftliche Interessen stecken. Seit 2007 gibt es die Anna-Göldi-Stiftung, die seit 2017 das Anna-Göldi-Museum betreibt. Präsident des Stiftungsrats und Geschäftsleiter ist laut Homepage der eingangs erwähnte Buchautor Walter Hauser.

Florian Gimpl, geboren 1993, ist Bildungshistoriker am Zentrum für Lehrer*innenbildung der Universität Wien und forscht zu Themen der österreichischen (Zeit-)Geschichte.