Zum Hauptinhalt springen

Alles Erdreich ist Österreich untertan?

Von Betina Petschauer

Wissen

AEIOU – dieses Akronym stand für den Geltungsdrang der Habsburger. Doch neben den Big Playern Großbritannien, Frankreich, Spanien, Portugal und den Niederlanden spielte Österreich nur eine sehr kleine Rolle, doch es blieb als Kolonialherr nicht untätig.


Kolonien sind keine Erfindung der Neuzeit, bereits bei den alten Griechen und Römern war die Übernahme fremder Gebiete üblich. Was heute unter Kolonialismus verstanden wird, beschränkt sich jedoch auf den Zeitraum ab dem 15. Jahrhundert bis etwa 1850. In dieser Zeit drangen Europäer in alle Regionen der Erde vor. In der darauffolgenden Epoche des Imperialismus (bis zum Ersten Weltkrieg) wurden die Kolonien mehr und mehr zu geostrategischen Stützpunkten.

Gründe dafür, Kolonien zu erschließen, gab es viele. Am wichtigsten war der ökonomische Faktor, denn die abhängigen Territorien lieferten wertvolle Rohstoffe wie Gold, Öl oder Edelsteine und mussten ihrerseits industrielle Produkte aus den Kolonialmächten importieren. Ein weiterer Faktor war die Vergrößerung des Staatsterritoriums, die zu mehr Einfluss in der Weltpolitik führte und die Kolonien zu Auffangbecken des Bevölkerungsüberschusses der Kolonialmächte machte. Auch der Wunsch nach Verbreitung der eigenen Überzeugungen (etwa Religion) respektive das Bestreben, die "unterentwickelten" Länder zu "zivilisieren", waren Gründe, die jedoch eher in der Phase des Imperialismus schlagend wurden. Aus dem Missionsgeist der Kirche, den Handelsinteressen der Unternehmer und dem Entdeckungsdrang der Forschenden entwickelte sich eine Dynamik, die zu den Kolonisationsbemühungen führte.

Europa gegen den Rest der Welt

Der Kolonialismus, wie wir ihn heute verstehen, begann 1492 mit der Entdeckung Amerikas. Die ersten Länder, die sich als Kolonialmächte durchsetzten, besaßen große Seeflotten, was ihnen einen essenziellen Vorteil gegenüber anderen Ländern verschaffte: Großbritannien, Spanien, Portugal, Frankreich und die Niederlande begannen, die Welt zu erobern. Die Seemacht erlaubte es ihnen auch, die Versorgung und den Handel zwischen Kolonie und Kolonialmacht zu garantieren.

Mit dem Hochimperialismus (1880-1914) traten durch den technischen Fortschritt auch Nationen in das Kolonialgeschäft ein, die keine großen Flotten zur Verfügung hatten. Dazu gehörten Italien, Belgien und das Deutsche Kaiserreich. Zwischen europäischen Ländern kam auch der Handel mit Kolonien auf. Es begann ein regelrechtes Wettrennen der europäischen Großmächte um die verbliebenen Kolonialgebiete, das im Hochimperialismus auch als "Wettlauf um Afrika" bezeichnet wurde. Großbritannien hatte es beispielsweise geschafft, auf allen Kontinenten Kolonien zu erobern und somit ein riesiges Handelsimperium aufzubauen. 1935 wurden unglaubliche 85 Prozent der Welt von europäischen Ländern kontrolliert.

Österreich in Afrika

Die schwarz-gelbe Handelsflagge Österreich-Ungarns zwischen 1749 (amtlich  vorgeschrieben) bis 1786. 1786 wurde sie durch die rot-weiß-rote Flagge ersetzt.
© Horst F. Mayer via Wikimedia Commons

Die Gründe, warum Österreich anfangs im Streben nach Kolonien nicht mitmischte, sind vielfältig. Als erstes ist hierbei der offensichtlichste Grund zu nennen: Österreich verfügte lange Zeit über keinen Meerzugang und Schiffsreisen wären dementsprechend ungleich schwieriger umzusetzen gewesen. Im Zuge des Spanischen Erbfolgekriegs jedoch wurden 1714 die Österreichischen Niederlande an das Habsburgerreich angeschlossen und mit Ostende tat sich der ersehnte Seezugang auf. Auf das Drängen von Handelsleuten gründete Kaiser Karl VI. 1722 die Kaiserliche Ostindische Handelskompagnie, in deren Rahmen zwar Handels- und Entdeckungsfahrten unternommen wurden, die jedoch auf Druck anderer Seemächte bereits 1727 wieder aufgelöst werden musste.

Karls Tochter Maria Theresia gründete 1775 die Triestiner Ostindische Handelskompanie mit Sitz in Triest. Ab 1776 fuhren die Schiffe unter der Flagge des Heiligen Römischen Reichs, das zu dieser Zeit ebenso von den Habsburgern beherrscht wurde. Angeführt wurde die Flotte von dem Holländer William Bolts, der davor schon für die Britische Ostindien-Kompanie gesegelt war. So landete man 1777 an der Südostküste Afrikas in der Delagoa-Bucht (heute Maputo-Bucht, Mosambik). Kurzerhand wurde der zuvor von der Niederländischen Ostindien-Kompanie verlassene Hafen gekauft, eine kleine Befestigung mit zehn Mann errichtet und die 113 Kilometer lange Bucht zur österreichischen Kolonie erklärt, die sich vier Jahre lang als einzige Afrika-Kolonie Österreichs halten sollte. 1781 verlor man die Bucht an Portugal, womit auch schon wieder das Ende österreichischer Kolonien in Afrika eingeläutet wurde.

Kurzfristige Inselokkupation

Dieser Holzschnitt von 1899 zeigt ein Dorf auf den Nikobaren. Österreich erklärte 1777 die Nikobaren zur Kron-Kolonie, verlor sie jedoch bereits 1784 wieder.
© ZU_09 / Getty

Direkt von Mosambik aus segelten die Schiffe 1777 weiter Richtung Indien. Auf den Nikobaren-Inseln im Golf von Bengalen wurden sechs Österreicher stationiert und die Inseln Nancowry, Camorta, Trinket, Katchal und Teressa zur Kronkolonie erklärt. Aber auch dieser Außenposten hielt nur einige Jahre. Die Triestiner Ostindische Handelskompanie wurde wegen Konkurses und mangels schützender Kriegsflotte 1785 von Kaiser Joseph II. aufgelöst und die Nikobaren 1784 Dänemark überlassen. Einzig die Insel Teressa, benannt nach Maria Theresia, erinnert noch an österreichische Ambitionen im Golf von Bengalen. Ob die Delagoa-Bucht und die Nikobaren wirklich als Kolonien bezeichnet werden können, ist unter Historikerinnen und Historikern umstritten, da die Präsenz der Österreicher vor Ort nur marginal und die Besetzungszeiten vergleichsweise kurz waren.

Ambitionierter war da der Abenteurer Moritz Benjowski, der 1783 dem Wiener Hof vorschlug, die Insel Madagaskar unter österreichischer Flagge in Besitz zu nehmen. Statt der erhofften finanziellen oder militärischen Unterstützung für sein Unternehmen erhielt er jedoch lediglich ein paar wohlwollende Worte, die Pläne wurde nie in die Tat umgesetzt.

Konzentration auf das Innen

Weitere Faktoren, die Österreich am Aufstieg zur Kolonialmacht hinderten, waren unvorteilhafte geopolitische Zustände und ein Zuvorkommen anderer Mächte. Nach den Napoleonischen Kriegen musste sich das Habsburgerreich erst einmal um die eigene Stabilisierung kümmern. Dabei half der Wiener Kongress (1814/1815), bei dem Vertreter aus 65 Staaten zahlreiche Grenzen in Europa neu festlegten und neue Staaten definierten. Dann begann eine zunehmende Industrialisierung, die den Fortschritt der anderen europäischen Mächte wieder etwas ausglich. Mit dem Verlust Venetiens 1866 büßte Österreich sein großes maritimes Erbe aber ein und musste erst wieder eine Flotte aufbauen. Anders als in Ostende zuvor gab es keine ausreichend mächtige Händlerlobby, die einen Überseehandel forciert hätte.

Weltweite Bemühungen

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden unter der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie Expeditionen nach Uganda, in den Sudan und ins Kongo-Becken durchgeführt, wo auch Stationen der k.u.k.-Monarchie aufgebaut wurden. Sogar ein "Apostolisches Vikariat Zentralafrika" wurde eingerichtet, wirklich Fuß fassen konnten die Österreicher aber nicht.

Doch die kolonialen Bemühungen erstreckten sich auch gen Norden. Im Rahmen der Österreichisch-Ungarischen Nordpolexpedition machten sich Forschende 1872-1874 mit dem Ziel auf, das Nördliche Eismeer zu erkunden. Entdeckt wurden 191 Inseln, die Franz-Joseph-Land genannt, aber nicht zur Kolonie gemacht wurden. Die Inselgruppe gehört heute zu Russland.

Franz-Joseph-Land, eine Inselgruppe im Nördlichen Eismeer, wurde zwar im Zuge einer Nordpolexpedition entdeckt, aber nicht zur Kolonie gemacht.
© Parshina Olga / Getty

Anfang der 1870er Jahre sollte auch ein Teil der südostasiatischen Insel Borneo auf Drängen des Geschäftsmanns Gustav Freiherr von Overbeck als Kolonie erworben werden. Nach einem Gefecht mit Indigenen wurde dieser Plan jedoch schnell wieder verworfen.

1894 wird jedoch die Österreichisch-Ungarische Kolonialgesellschaft gegründet, in deren "Kolonial-Zeitung" teils recht radikale Ansichten – wie etwa Gewalt als Mittel zur Kolonisierung anderer Länder – geteilt werden. Der Einfluss der Gesellschaft bleibt allerdings bis zu ihrer Auflösung 1918 gering. Durch Produkte, die andere Kolonialmächte aus den Kolonien mitbrachten, wurden aber auch in Österreich imperialistische Weltbilder und -anschauungen etabliert.

Nach der Zerschlagung des Boxeraufstands in China 1901, wo Österreich gemeinsam mit anderen Kolonialmächten kämpfte, wurde die Stadt Tianjin zu einem Österreichisch-Ungarischen Handelsstützpunkt mit eigener Konzession – somit auch keine echte Kolonie. Nach dem Zerfall der Doppelmonarchie ging auch dieser wieder verloren.

Die letzten österreichischen Ambitionen in Richtung Kolonien fanden Anfang des 20. Jahrhunderts statt. Österreich-Ungarn wurde 1878 auf dem Berliner Kongress das Okkupations- und Verwaltungsrecht auf Bosnien und die Herzegowina zugesprochen. Ununterbrochene Aufstände waren die Folge, die Annexion des Landes 1908 verschlimmerte die Situation noch und führte 1914 mutmaßlich zum Attentat auf Franz Ferdinand in Sarajevo, das den Ersten Weltkrieg auslösen sollte. Einige Historikerinnen und Historiker und auch Publizierende zur Zeit der Monarchie behaupten, dass die Aktivitäten am Balkan so etwas wie Binnenkolonialismus und Bosnien-Herzegowina als Ersatzkolonie angesehen werden kann.

Das Erbe des Kolonialismus

Dass Österreichs offizielle Kolonialgeschichte nur wenige Jahre dauerte, heißt also nicht, dass sich die Alpenrepublik gar nicht am Kolonialismus und Imperialismus beteiligt hätte. Leider gab es auch besonders unrühmliche Episoden wie etwa die Uganda-Reise des nationalsozialistischen "Rassenphysiologen" Robert Stiegler (1911), der dort Untersuchungen an Einheimischen vornahm, den Großwildjäger Louis Esterházy oder die Sklaventransporte der Reederei "Österreichischer Lloyd". In österreichischen Museen befinden sich heute außerdem hunderte Objekte afrikanischen Ursprungs, von denen unklar ist, ob sie legal erworben wurden oder nicht. Dies ist auf die Schifffahrtsrechte zurückzuführen, die Österreich-Ungarn bei der Berliner Westafrika-Konferenz 1884/1885 zugesprochen wurden. Eine international besetzte Kommission soll im Frühjahr 2023 eine Empfehlung abgeben, was mit diesen Objekten geschehen soll. Das Thema Restitution ist schwierig und betrifft die Frage, wie mit dem Erbe der Kolonialzeit heute umzugehen ist. So hat etwa Frankreich 2020 die Restitution von gewaltsam entwendeter afrikanischer Kunst gesetzlich verankert. Nach Schätzungen befinden sich mehr als 90 Prozent der Kunst, die in Ländern südlich der Sahara hergestellt wurde, nicht mehr auf dem afrikanischen Kontinent.

Ein dunkles Kapitel

Die Kolonialzeit wirkt jedoch nicht nur in Bezug auf Museumsobjekte nach. Zwar sind heutzutage fast alle ehemaligen Kolonien souveräne Staaten, doch die Strukturen in den Ländern, ihre Entwicklung und Abhängigkeiten sind immer noch mit den ehemaligen Kolonialmächten verbunden. Wie sich die europäischen Länder Macht und Einfluss verschafft haben, wird im besten Falle schöngeredet, im schlimmsten Falle negiert. In Wahrheit fußten die Errungenschaften auf Ausbeutung, Diebstahl, Menschenraub, Vergewaltigung, Sklavenhandel und Genozid. Auch spielten die Kolonialherren verschiedene indigene Bevölkerungsgruppen gegeneinander aus, wie etwa die Hutu und die Tutsi in Ruanda, was zu Gräueltaten und Konflikten führte, die bis heute nicht beendet sind.

Aus Sicht einiger Autorinnen und Autoren erfolgte die Entwicklung der europäischen Länder auf Kosten der Kolonien, was unter der (umstrittenen) Dependenztheorie zusammengefasst wird. Auch die Grenzen, die etwa auf dem afrikanischen Kontinent von den europäischen Mächten gezogen wurden, existieren heute noch und missachten bestehende ethnische Einheiten. Die weltweite Aufarbeitung des Kolonialismus ist jedenfalls noch lange nicht abgeschlossen, die vergleichsweise unbedeutende Stellung Österreichs erweist sich im Nachhinein als Glücksfall.