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Rätselhafter Richter

Von Janko Ferk

Reflexionen
Jesus könnte Opfer eines "politischen Kuhhandels" zwischen Römern und Juden gewesen sein: "Christus vor Pilatus", Gemälde von Mihály von Munkácsy, 1881.
© gemeinfrei, via Wikimedia

Über Pontius Pilatus, der Jesus zum Tode verurteilte, ist wenig Gesichertes bekannt. Eine historisch-juristische Annäherung.


Zwei Männer gehören in der christlichen beziehungsweise westlichen Menschheitsgeschichte zu den allerberühmtesten, der Zimmermannssohn Jesus von Nazareth und sein irdischer Richter Pontius Pilatus. Natürlich konnte der Richter, auf Lateinisch iudex, nicht wissen, dass er es mit einem Gott zu tun hatte, als er seine Hände in Unschuld gewaschen hat. Aber: Gott oder nicht Gott, ein Richter war schon vor mehr als zweitausend Jahren der Gerechtigkeit und vor allem dem Recht verpflichtet.

Prominente Randfigur

Liest man die ausreichend vorhandenen Geschichtsquellen mit der gebotenen (Beweis-)Würdigung, entsteht der Eindruck, Pontius Pilatus war der Sache leid und wollte sich des aufmüpfigen Wanderpredigers, vielleicht auch aus Bequemlichkeit, entledigen. Und sei es um den Preis eines Menschenlebens. Der opportune Richter konnte nicht wissen, dass dieser Tod den Globus verändern und sich eine neue Religion am Beginn unserer Zeitrechnung rasant in der - damals bekannten - Welt verbreiten würde.

Viele Geschichten ranken sich um das Leben des Juden aus Galiläa, der um das Jahr 30 (nach Christus!) am Kreuz starb und dessen Lehre(n) bald zu einer einflussreichen Weltreligion heranwuchs(en). Das Römische Imperium mit all seiner Mächtigkeit konnte ihm keine Grenzen setzen. Auch nicht ein kleiner Richter, der dem Rebellen den Garaus machte.

Hier soll nicht das Christusproblem abgehandelt werden, sondern die Person Pilatus, die nach dem großen Auftritt vor der Weltgeschichte sozusagen spurlos verschwand und dennoch tagtäglich zigmillionenfach und noch mehr in Gebeten oder Messfeiern mit Namen genannt wird. Es interessieren die Motive für das Urteil und die politischen Hintergründe Golgathas.

Pilatus ist keine wirklich große historische Person, aber mit seinem Judikat ist er weit und für immer über sich hinausgewachsen. Er ist und bleibt eine Randfigur mit höchster Prominenz. (Eigentlich hätte er besonders gut in Stefan Zweigs "Sternstunden der Menschheit" gepasst, wobei die positive Konnotation naturgemäß nur dem Verurteilten hätte zukommen dürfen.)

Pontius Pilatus war nicht etwa in der Regierungszeit Gaius Julius Caesars als kaiserlicher Statthalter in Judäa beamtet, sondern in jener von Kaiser Tiberius. Jesus war in seinen - römischen - Augen ein Aufständischer, den er zum Tod am Kreuz verurteilte. Nach dem biblischen Hintergrund war dieses Verfahren eine unentbehrliche Voraussetzung für die Heilsgeschichte. Der Römer, der durch die zufälligen Umstände seiner Amtsführung zu "ewigem" Weltruhm gelangte, war - salopp gesagt - nichts Besonderes. Er war einer von hunderten Provinz(ial)statthaltern. Er gehörte nicht einmal, wie es die historischen Quellen belegen, einer höheren senatorischen Klasse, sondern nur der niederen ritterlichen Rangordnung an.

Routinehandlung

Diesen Provinzhäuptling machte auch keine glanzvolle administrative oder militärische Leistung beziehungsweise ein aufsehenerregendes Ereignis weit weg von Rom zum Prominenten, sondern eine ganz gewöhnliche justizielle Maßnahme, wenn man sie überhaupt so nennen darf, gegen einen "Rebellen", der auch nicht einzigartig war. Seinesgleichen gab es zuhauf. Das heißt, Pontius Pilatus setzte sozusagen eine Routinehandlung, um die Ordnung aufrechtzuerhalten.

Fraglich ist, ob die Welt Pilatus ohne die Bibel überhaupt wahrgenommen hätte. Alle vier Evangelisten berichten über ihn. Über das Todesurteil referieren desgleichen außerbiblische Quellen, die vielen ohnehin willkommener sind als die - lange Zeit unangreifbare - Heilige Schrift, deren historische Zuverlässigkeit erst ab der Aufklärung ernsthaft angezweifelt werden durfte. Auch in den außerbiblischen Quellen über den Statthalter finden sich Hinweise auf den Tod Jesu.

Das angebliche Grabmal des Pontius Pilatus bei Vienne (Grafik von Josef Resch, 1867).
© gemeinfrei, via Wikimedia

Pilatus war der fünfte Präfekt von Judäa, praefectus Iudaeae. Seine Vorgänger sind namentlich und mit ihrer Amtszeit bekannt. Pilatus absolvierte in den Jahren zwischen 26 und 37 ein elfjähriges Mandat. Trotzdem kennen wir - ob all der historischen Quellen - nicht einmal seinen Vornamen. Die klassische römische Namensform bestand aus drei Teilen: dem Vornamen, praenomen, Familiennamen, nomen gentile, und Beinamen, cognomen.

Pontius ist in der späten römischen Republik und der Kaiserzeit ein wohlbekannter Name. Cicero nennt mehrere Angehörige - und Lucius Pontius Aquila gehört im Jahr 44 zu den Mördern Caesars. (Als ob sich diese Familie schon immer gegen die Halb- und Götter verschworen hätte!)

Das Geburtsjahr und der Geburtsort sind unbekannt. Auch über das Todesjahr gibt es widersprechende Angaben. Er soll aber in der Verbannung in Vienne, einer Stadt in Südfrankreich, gestorben sein.

Jüdisches Bildertabu

Pilatus ist der am besten dokumentierte Statthalter. Sein korrekter Amtstitel war der Praefectus. In der frühen Kaiserzeit war dies meist eine militärische Position. Wahrscheinlich ist seine Amtszeit wegen der Konflikte mit den Juden auffallend gut belegt. Eine der Kontroversen entstand wegen des jüdischen Bildertabus, weshalb auch der römische Kaiser, dem kultische Verehrung zukam, nicht dargestellt werden sollte. Pilatus ließ goldene Schilde anbringen, die er mit kurzen Inschriften der zu Verehrenden versah. "TIBERIO CAESARI / DI AVGVSTI FILIO".

Die Juden ersuchten ihn, die anstößigen Schilde zu entfernen, was er ablehnte. Die jüdische Gesandtschaft richtete an Tiberius eine Beschwerde und berichtete über seine Bestechlichkeit, Gewalttätigkeit, fortgesetzte Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren und seine unerträgliche Grausamkeit.

Tiberius tadelte Pilatus und befahl, die Schilde sofort zu entfernen, was auch geschah. Aufgehängt wurden sie danach in Sebasteion, wodurch die Ehre des Kaisers und jene der Juden gewahrt wurde. Die Römer wollten Blutvergießen aus rein religiösen Gründen möglichst vermeiden.

Beim Bildertabu wurde Pilatus von den Juden zum Einlenken genötigt. Durch diesen Rückzieher erlitt er als Statthalter einen beträchtlichen Prestigeverlust. Seine späteren Maßnahmen lassen sich auch damit erklären. Durch die Verurteilung Jesu zum Tod am Kreuz suchte er dann - gleichsam opportunistisch - den Beifall der führenden Juden.

Nicht verschwiegen werden soll, dass Tiberius bei der Auseinandersetzung seines Statthalters mit den Juden sich auf deren Seite gestellt hat. Nicht so in Rom, wo er sie sogar - im Rahmen einer Kollektivstrafe - aus der Stadt verbannte, weil ein Jude Purpur und Gold, das für den Tempel gestiftet wurde, betrügerisch unterschlagen hatte.

Ausschnitt aus Mel Gibsons Film "Die Passion Christi" mit Hristo Naumov Shopov als Pontius Pilatus und Jim Caviezel als Jesus (l.).
© ullstein bild - United Archives

Aus der Zeit vor der Hinrichtung Jesu stammt noch ein anderer Konflikt, über den auch der Evangelist Lukas berichtet: "Zur selben Zeit kamen einige und berichteten ihm von den Galiläern, deren Blut Pilatus mit dem ihrer Opfer vermischt hatte." (Lukas 13, 1.)

Der Hintergrund dieser Geschichte ist nicht ausreichend erforscht. Er ist womöglich in der Tatsache begründet, dass Pilatus plante, ein Aquädukt zu bauen (die Römer legten immer größten Wert auf eine gute Wasserversorgung), und er sich dafür am Schatz des Tempels, dem sogenannten Korban, bedienen wollte, weil Überschüsse aus diesem für wohltätige Zwecke verwendet werden durften. Die Wasserversorgung hielt er für einen solchen. Für die Hohen Priester war das Wasser nicht unbedingt eine Barmherzigkeit. Für sie war der Griff in die Kasse ein Sakrileg.

Kaiphas’ Interesse

Der Zielkonflikt von Politik und Religion ist unübersehbar. Jerusalem hatte schon damals wenig Wasser. Die Proteste ließ Pilatus einfach - und buchstäblich - niederknüppeln. Es ist geschichtlich nicht gesichert, dass er sich des Tempelschatzes bedienen konnte, hingegen ist archäologisch der Bau zweier Aquädukte nachgewiesen, wovon einer das Projekt Pilatus’ ist.

Christus vor Kaiphas, gemalt von Wolfgang Katzheimer, 1483, Germanisches Nationalmuseum
© gemeinfrei, via Wikimedia

Ein Interesse am Tod Jesu hatten die amtlichen Hüter der mosaischen Rechtgläubigkeit, jedenfalls der Hohepriester Kaiphas, der den protestierenden Wanderprediger dem Statthalter als Rebellenkönig auslieferte. "Mein Reich ist nicht von dieser Welt." (Johannes 18, 36.)

Nach der Kreuzigung bildete sich in Jerusalem eine immer größer werdende "christliche" Gemeinde, die mit dem Hohen Rat der Juden in Konflikt geriet, und zwar noch während der Amtszeit von Pilatus. In der Folge keimte ein Unfrieden zwischen den Judenchristen und Heidenchristen auf. In Jerusalem blieben die Christen unbehelligt, wenn sie nicht predigten. Das vom Hohen Rat verhängte Lehrverbot wurde jedoch übertreten. "Und sie riefen sie wieder herein und verboten ihnen, je wieder im Namen Jesu zu sprechen oder zu lehren." (Apostelgeschichte 4, 18.) Der Verfolger der Christen war der unvermeidliche Hohepriester Kaiphas.

Konflikt mit Samaritern

Pontius Pilatus stürzte später über einen Konflikt mit den Samaritern, die Taheb, einen von Gott erweckten Propheten, erwarteten (5. Mose 18,15 ff.). Ein solcher wiegelte im Jahr 36 die Samariter auf und wollte mit ihnen den heiligen Berg Garizim besteigen, was Pilatus vereitelte. Er versperrte ihnen den Weg mit Reitern und schwerbewaffneten Fußkämpfern. Die Folge war eine regelrechte Schlacht mit vielen Toten. Die Anführer ließ Pilatus - wiederum - hinrichten. Die Samariter führten beim übergeordneten Statthalter Klage und Pilatus wurde im Jahr 37 suspendiert. In Rom sollte er sich vor Tiberius verantworten. Kurz vor seiner Ankunft verstarb der Kaiser allerdings (am 16. März 37). Nur nebenbei sei erwähnt, dass die genauen Umstände von dessen Tod ungeklärt sind. Widersprechende Gerüchte vermeinen sogar, er sei von Caligula oder den Prätorianerpräfekten Quintus Naevius Sutorius Macro umgebracht worden.

Pontius Pilatus musste sich jedenfalls nicht mehr vor dem Kaiser verantworten - und ab diesem Zeitpunkt gibt es über ihn keine haltbaren Berichte mehr.

Bekannt ist, dass Vitellius, der Nachfolger Pilatus’, den Hohepriester Kaiphas absetzte. Historiker vermuten, dass Pilatus und Kaiphas eine - mit heutigen Worten - gute politische Beziehung pflegten, die Jesus das Leben gekostet hat. Offensichtlich konnte sich Pilatus beim Wasserleitungsbau der Unterstützung Kaiphas’ sicher sein. Umgekehrt dürfte er dem Hohepriester bei den Maßnahmen gegen die verhassten Samariter geholfen haben.

"Ecce homo": Skulptur aus dem Jahr 1854 von Ignazio Jacometti in der Scala Santa in Rom, die Pilatus mit Jesus darstellt.
© gemeinfrei, via Wikimedia

Die Hinrichtung des nachmalig höchst erfolgreichen Glaubensgründers dürfte, wie die Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes berichten, eine Gefälligkeit gegenüber den Obersten der Juden gewesen sein. Jesus war also nicht das Lamm Gottes, sondern ein römisches Opfer für die Juden, gleichsam im Sinn eines politischen Gleichgewichts.

In jüdischen Quellen gilt Pontius Pilatus als brutaler Judenfeind. In der Bibel hingegen wird er als eher weichherzig dargestellt. Er will den Juden Jesus schonen. Doch der Hohe Rat und das Volk sind unnachgiebig. "Noch einmal wandte sich Pilatus an sie, da er Jesus freigeben wollte. Sie aber schrien dagegen: ‚Kreuzige ihn, kreuzige ihn!‘" (Lukas 23, 20.) Auch beim dritten Mal war das Volk unerbittlich. Jesus sollte am Kreuz leiden.

Festgehalten sei, dass sich die Juden immer wieder beim Kaiser in Rom beschwerten. Wegen des Jesus-Todesurteils war dies nicht der Fall. Verständlich, denn Pilatus verurteilte ihn als rex Iudaeorum, als König der Juden, und entsprach damit dem Wunsch der jüdischen "Behörden", die auch keine Einwände beim Vorgehen gegen ihre Erzfeinde, die Samariter, hatten.

"Von Pontius zu Pilatus"

Unter dem Strich, wie man so schön sagt, ergeben die zwei oder drei Konflikte, die Pilatus nach den historischen Quellen mit den Juden hatte, keine schwarze Liste. Und der Tod Jesu wurde mehr oder weniger von Kaiphas inszeniert. Pilatus wollte - im Sinn der erwähnten römischen Politik - nie in religiöse Streitigkeiten eingreifen. Man kann - auf der Grundlage der Evangelien - sogar behaupten, er habe versucht, die Hinrichtung abzuwenden.

Hier ist auf die Redewendung "Jemanden von Pontius zu Pilatus schicken" hinzuweisen, die daraus entstanden ist, dass der Statthalter den Beschuldigten zunächst zu seinem Landesherrn Herodes Antipas überstellte, der ihn aber zurück zu Pilatus schickte. Für eine Erörterung der Zuständigkeiten nach dem römischen Recht, den Grundsätzen des forum domicilii und forum delicti, ist hier nicht der Platz, ausgeführt werden kann jedoch, was in den Digesten kodifiziert wurde, wo es lautet: "Der Statthalter hat in seiner Provinz die Blutgewalt auch gegenüber Auswärtigen, wenn sie etwas Böses begangen haben." Jesus war landfremd, unterlag aber der Jurisdiktion des römischen Statthalters.

Pontius Pilatus, der Richter, Ritter und Römer, kann mit den minutiösen Lebensdaten seines Opfers jedenfalls nicht mithalten. Wie gesagt, sind weder Todesstunde noch Todesort geschichtlich fix verortet. Wie auch sein Anfang unbekannt ist. Für einen weltberüchtigten Mann eigentlich eine Beschämung ...

Es mag ein exemplarischer Treppenwitz der Geschichte sein, eine Ironie oder gar eine Fügung, dass das Zentrum des römischen Imperiums, in dessen Namen Jesus zum Tod verurteilt wurde, schon bald nach seinem irdischen Ende zum Mittelpunkt der Christenheit geworden und geblieben ist. Ich nenne sie gern die vatikanisch-katholische Kirche. Heute ist die Bewegung, die ein Wanderprediger auslöste, sozusagen die offizielle Religion fast der gesamten westlichen Welt.

Zuletzt könnte man noch die Frage stellen, was geschehen wäre, wenn Pontius Pilatus Jesus freigesprochen hätte. Man kann sie nicht einmal ansatzweise beantworten, aber mutmaßen, dass wir heute entweder Juden wären oder Mitglieder einer Religionsgemeinschaft, die sich aus einer anderen Heilsidee entwickelt hätte. Weiß Gott.

Janko Ferk ist Richter am Landesgericht Klagenfurt, Honorarprofessor der Universität Klagenfurt / Univerza v Celovcu und Schriftsteller. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, zuletzt den Essayband "Kafkas ‚Strafen‘, neu ausgelegt" (Leykam Verlag, Graz 2022) und die Reisemonografie "Die Slowenische Riviera" (Edition Kleine Zeitung, Graz 2022).