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Lady Trollope reist nach Wien

Von Wolfgang Ludwig

Wissen
Frances Trollope (1779-1863), porträtiert von Auguste Hervieu, ungefähr im Jahr 1832.
© National Portrait Gallery London. Ref. 3906

Die englische Reiseschriftstellerin Frances Trollope besuchte 1836 in der Kaiserstadt ebenso Bälle wie ein Gefängnis.


Reiseliteratur erlebte im 19. Jahrhundert einen wahren Boom: Die Menschen wollten andere Länder kennenlernen, hatten aber keine Ahnung, wie es dort zuging. Ziele waren vorwiegend Regionen, die dem Bildungsbürgertum schon in der Schule nahegebracht wurden, also Griechenland und vor allem Italien, aber auch Orte, deren Mythos oder besonderer Flair Reiselust erzeugte.

Mutter aller Reisebücher war natürlich Johann Wolfgang Goethes "Italienische Reise". Die fand 1786/88 statt, das Buch erschien aber erst fast dreißig Jahre später. Unzählige Reisende machten es Goethe nach, nicht wenige waren wegen der mangelhaften touristischen Infrastruktur im Süden ziemlich enttäuscht. Gustav Nicolai schrieb sogar einen Anti-Ita-lien Reiseführer, in dem er das deutsche Publikum eindringlich vor dem Land warnte ("Italien wie es wirklich ist, als Warnungsstimme für Alle, welche sich dahin sehnen", Leipzig, 1835).

Kommerzielle Reiseführer gab es natürlich auch: Die bekanntesten stammten von Johann Jacob Volckmann, mit dem Goethe nach Italien gereist war, und von Karl Baedecker, dessen Führer ab 1835 den Aufenthalt in fremden Ländern mit praktischen und aktuellen Tipps erleichterten. Viele Autoren von persönlich gehaltenen Reiseberichten wollten einen Teil der exorbitanten Reisekosten wieder hereinholen, indem sie Erfahrungsberichte veröffentlichten. Oft steckten aber auch andere Motive dahinter.

Politik oder Schulden

Charles Sealsfield (geboren 1793 als Carl Anton Postl) trat in jungen Jahren dem Orden der Kreuzherren bei, flüchtete jedoch aus dem Kloster - woraufhin er steckbrieflich gesucht wurde - in die USA, deren Staatsbürger er wurde. Er konnte sich als erfolgreicher Schriftsteller etablieren. Neben literarischen Texten veröffentlichte er Reiseliteratur über die USA und arbeitete seinen Groll gegen Österreich in dem Werk "Austria as it is" (1828) ab, in dem er vor allem die Zustände unter Metternich kritisierte.

Nicht ganz unähnlich ging es Frances Trollope (geborene Milton, 1779 bei Bristol). Zwar floh sie aus keinem Orden, aber vor der englischen Finanzbehörde und vor Gläubigern. Ihr Mann, der Anwalt Thomas Anthony Trollope, zog es aufgrund finanzieller Probleme vor, seine Frau und die Kinder 1827 in die USA zu schicken, vorerst alleine - eine eher ungewöhnliche Vorgangsweise. Die genauen Umstände sind unklar.

© Gemeinfrei / via Wikimedia Commons

In Cincinnati gründete sie 1829 ein Lokal, umgab sich mit Künstlern und verkaufte teuren Krimskrams, den ihr Mann aus England nachschickte. Bald wurde der Maler Auguste Hervieu ihr Begleiter, dessen Werke sie ebenfalls vermarktete. Sehr erfolgreich dürfte sie nicht gewesen sein: 1831 zog Trollope nach der Pleite des Lokals, mit dem inzwischen nachgereisten Gatten, den Kindern und Auguste Hervieu, sehr rasch zurück nach Europa. Da die Familie dringend Geld benötigte, verlegte sich die inzwischen 52-Jährige aufs Schreiben - und hatte goldrichtige Ideen.

Sie verfasste mehrere Romane und Reiseberichte, nach denen eine ungeheure Nachfrage bestand. "Domestic Manners of the Americans" (1832), eine durchaus kritische Beschreibung der Lebensweise der Amerikaner (hauptsächlich der Zuwanderer und natürlich aus Sicht der Weißen), wurde ein großer Erfolg. Zusätzlich schrieb sie auch Fortsetzungsgeschichten für Zeitungen, oft mit sozialkritischem Inhalt. Trollopes Kasse füllte sich langsam wieder.

Fortsetzungen der Reiseberichte waren eine logische Folge des Erfolgs. Trollope konnte nun reisen, darüber schreiben und davon leben. Hervieu und eine Zofe waren meist auch dabei: Da ihr Mann inzwischen verstorben war, stellte diese Konstellation kein Problem dar. Eine Frankreich-Reise wurde sogar in zwei Bänden vermarktet ("Paris and the Parisians", 1833), dann sollte Österreich an die Reihe kommen: "Vienna and the Austrians" (1838) gibt in Briefform Reiseeindrücke aus Deutschland, Österreich und besonders Wien wieder.

Anfang September 1836 wollte Trollope, von Frankreich kommend, über Regensburg nach Wien reisen, wo sie einige Monate zu bleiben gedachte. Sie erhoffte sich Zugang zur höchsten Gesellschaft und in die Kreise um Fürst Metternich. Der war zwar für alle liberal Gesinnten das absolute Feindbild, aber politische Befindlichkeiten hatte Trollope weitgehend abgelegt.

Die kleine Truppe entschied sich, ab Regensburg das Schiff über die Donau zu nehmen, da der Landweg zu unbequem und langwierig war. Reisen mit der Postkutsche waren damals sehr unangenehm. Das ständige Rütteln, das enge Nebeneinander mit Fremden und die Gefahr von Achsbrüchen trübten das Reiseerlebnis. Die Übernachtungen in den Poststationen mit unhygienischen Bedingungen, schlechtem Essen und oft verwanzten Nachtlagern waren ein eigenes Kapitel. Außerdem waren die Nächte kurz, da es in aller Herrgottsfrühe wieder losging.

In der "Schachtel"

Lady Trollope (sie war zwar nicht adelig, aber das interessierte niemanden so genau) nahm also den Donauweg. Da größere Dampfschiffe erst etwas später aufkamen, gab es meist nur die sogenannten "Ulmer Schachteln": maximal 22 Meter lange und etwa drei Meter breite Einweg-Boote aus Holz, die nur stromabwärts fuhren und am Zielort (meist Wien, Budapest oder Belgrad) verwertet wurden. Gesteuert wurden sie durch Ruder am Bug und Heck und seitlich. An Deck befand sich eine kleine Kajüte. Diese "Schachteln" wurden seit dem 18. Jahrhundert von deutschen Auswanderern benutzt, die nach Ungarn, Serbien oder Rumänien ausreisen wollten, wo sie als Donauschwaben bezeichnet wurden.

Eine Ulmer Schachtel driftet ihres Weges: "Wackerstein an der Donau", Lithographie von Adolf Friedrich Kunike nach J. Alt (Mitte 19. Jh.).
© Donauschwäbisches Zentralmuseum, Ulm, mit freundlicher Genehmigung

Die Reise mit einer "Schachtel" verlief zwar rüttelfrei, aber es bestand immer die Gefahr, auf eine Untiefe aufzulaufen. Trollopes Beschreibung des Bootes in einem Brief klingt nicht sehr vertrauenserweckend: "Wir brechen morgens auf, und ich kann Dir noch nicht sagen, ob ich mich auf die Fahrt mehr fürchte oder freue, denn wir haben das Schiff besichtigt und festgestellt, daß es nicht verheißungsvoll aussieht und auch keine Bequemlichkeit bieten wird." Das Deck des Bootes ist trotz der "schlüpfrigen Oberfläche" durch kein Geländer gesichert. Sanitäre Einrichtungen gibt es nicht.

Gegessen wurde zumindest einmal am Tag in Wirtshäusern, bedient von jungen Mädchen, "die ziemlich viel guten Willen äußern, die Fremden nicht bloß zu Tische zu bedienen". Die Reise dauerte üblicherweise vier bis sechs Tage, gefahren wurde nur bei Tageslicht. Geschlafen wurde an Bord, am Boden zwischen Kisten und Säcken. Anspruchsvollere Reisende nächtigten in Gasthäusern.

Die Fahrt ab Regensburg begann angenehm, Trollope, die Zofe und Auguste Hervieu fanden eine Ecke am Schiff, wo sie sich zurückziehen und die schöne Landschaft in der Herbstsonne genießen konnten. Hervieu fertigte während der Reise Skizzen und Illustrationen an. Doch sobald es regnete, war Schluss mit der Idylle. Unter Deck verstellten zahlreiche Kisten den Platz, intensiver Zigarettenqualm überdeckte zwar penetrante Körpergerüche, machte aber das Atmen schwer.

Eine Übernachtung in Pleinting bei Vilshofen sollte in besonderer Erinnerung bleiben. In einem Gasthof wurde der Gruppe ein Sechserzimmer angeboten, in das der Wirt noch weitere, fremde Männer einquartieren wollte. Nach heftigen Protesten der Damen gestatte er, dass die Gäste die Betten der Damen in eine winzige Kammer tragen durften, und kassierte dafür noch einen saftigen Aufpreis. Am nächsten Morgen verlangte er von allen Gästen gleich das Doppelte. Diese weigerten sich, zu zahlen. Darauf schickte der Wirt einen Mann zum Schiff, und es kam zu einer Schlägerei. Der Dorfpolizist erschien, protokollierte, die Polizei im nahen Vilshofen sollte den Fall später klären, das Schiff konnte ablegen.

Das nächste Abenteuer wartete hinter Passau in einem Gasthof in Engelhartszell, wo den Gästen erklärt wurde, es sei nicht üblich, Betten frisch zu überziehen. Das Bettzeug sah angeblich sehr "gebraucht" aus, durch die Fenster zog es, geheizt wurde nicht. Was für ein Gegensatz war da Linz, wo die Vorzüge des "civilisierten Schwarzen Adlers", der "so oft übersehene Bequemlichkeiten" bot, von der schwer geprüften Lady deutlich hervorgehoben wurden.

Kein frisches Bettzeug in Engelhartszell anno 1836 - heute kommt das natürlich nicht mehr vor.
© OÖ Tourism

Doch auch in Linz geschah Unglaubliches: Ein Polizist lud jene Passagiere, die in Pleinting in die Schlägerei verwickelt gewesen waren, aufs Revier und teilte ihnen mit, dass alles rechtens sei: Sie müssten den Wucher natürlich nicht bezahlen, Wirt und Schläger würden vom Gericht in Vilshofen entsprechend bestraft werden. Das nennt man schnelle, grenzüberschreitende Polizeiarbeit!

Die Fahrt Richtung Wien verlief weitgehend problemlos. An gefährlichen Stellen kam ein lokaler Lotse an Bord, der den Kapitän unterstützte. So verloren auch die gefürchteten Strudel der Wachau ihren Schrecken, wo ein anderer Vorfall für kurze Aufregung sorgte: Ein kleines Boot hakte sich an der "Schachtel" unserer Reisenden fest und der Fährmann bat um ein kleines Almosen.

Bald war Wien erreicht, doch nur fast: Dem Kapitän gefiel es aus unerklärten Gründen, seine Passagiere schon bei Klosterneuburg an Land zu setzten. Die Reisenden ließen sich das gefallen, da sie "des Schiffes überdrüßig" waren. Lady Trollope und Begleitung gelangten per Kutsche nach Wien. Nun konnte sie endlich in die Recherche für ihr neues Werk in die Wiener Gesellschaft eintauchen, und das tat sie mit großem Geschick und sehr gründlich.

Soiréen und Kanäle

Es gelang ihr, sich rasch Zugang zu höchsten Kreisen zu verschaffen, wohl auch, weil sie als Engländerin bei Soirées als internationaler Aufputz diente. Einige Kontakte waren sicher schon vorher vorhanden. Mit Französisch und teilweise Englisch konnte sie sich gut verständigen.

Obwohl sie sich hauptsächlich in der oberen Gesellschaft bewegte, muss man doch ihre Beobachtungsgabe und die journalistische Neugier auf die Lebensverhältnisse und deren präzise Schilderung anerkennen. Trollope besuchte Bälle und andere Veranstaltungen, deren unterschiedlichen gesellschaftlichen Rang sie sofort erkannte, führte zahlreiche Gespräche, schrieb über Preisniveaus, Zuwanderung, die Zusammensetzung der Gesellschaft und besuchte sogar ein Gefängnis.

Neben den prunkvollen Gebäuden der Stadt, die sie natürlich alle besichtigte, erkannte sie auch kommunale Probleme: Die stinkenden, offenen Abwasserkanäle, den völlig verschmutzen Wien-Fluss ("dieser schwarze und übelriechende Graben ist ein fauler Fleck in der Schönheit dieser liebenswürdigen Stadt"), die schlechte Ausstattung vieler Wohnungen und deren hohe Preise. In Gesprächen mit Wienern erörterte sie auch die Zensur der Printmedien und hörte, dass der Liberalismus eine Denkweise sei, die auf "Weisheit oder den Willen von Gott und Menschen" keine Rücksicht nehme, während der Absolutismus den althergebrachten Gesellschaftsvertrag aufrechterhalte.

Trollope blieb von Ende September 1836 bis Mai 1837 in Wien. Die Tantiemen ihrer Werke dürften reichlich geflossen sein, denn finanziell waren Reise und Aufenthalt kein Problem (davon können Autoren heutzutage nur träumen). Sie starb 1863 in Florenz, wo sie, von Tantiemen lebend, ihre letzten Jahre verbracht hatte.

Wolfgang Ludwig unterrichtete lange Zeit in Südosteuropa und Wien und schreibt Kulturreportagen.