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Carl Orffs späte Rehabilitierung

Von Edwin Baumgartner

Wissen
Die 2009 aufgestellte Büste Carl Orffs in der Münchner Ruhmeshalle kann unangetastet bleiben: Der Komponist hat über seine Vergangenheit in der NS-Zeit korrekt Auskunft gegeben. Foto:wikipedia

Eine Anbiederung an die Nationalsozialisten unterblieb. | Die missglückte Reinwaschung durch angebliche Nähe zum Widerstand fand nie statt.


Plötzlich steht der Komponist im Zwielicht: Carl Orff, Schöpfer des Dauerbrenners "Carmina burana", die laut aktuellem CD-Katalog in rund 70 Einspielungen vorliegen, soll sich mit den Nationalsozialisten eingelassen haben. Und nicht genug damit: Bei den Entnazifizierungsverfahren soll er, wie der kanadische Historiker Michael Kater herausfand und in "Die mißbrauchte Muse. Musiker im Dritten Reich" (deutsche Übersetzung 1998) veröffentlichte, den Mitgliedern der Kommission in die Gesichter der demokratischen Umerziehung gelogen haben: Er, Orff, sei der Widerstandsgruppe "Weiße Rose" nahegestanden und habe in Lebensgefahr geschwebt. Lange Zeit galt Orff als ein Komponist, der dem Widerstand gegen die Nationalsozialisten näher gewesen war als den Nationalsozialisten selbst.

Katers Orff-Theater

Als Kater das Lügengebäude zum Einsturz brachte, schwappte über dem Kopf des längst verstorbenen Komponisten eine übelriechende braune Suppe zusammen: Von Anbiederung war die Rede, von Musik im NS-Auftrag und, am schlimmsten, vom Versuch, die Schauspielmusik zu William Shakespeares "Sommernachtstraum", die vom Juden Felix Mendelssohn-Bartholdy stammt, durch eine rein arische zu ersetzen. Dies, so Orffs Kritiker, sei als Teil der von den Nationalsozialisten betriebenen Judenvernichtung zu verstehen, die sich auch auf geistige Werte ausdehnte.

Was die Kritiker nicht wussten oder nicht wissen wollten: Ihr Blick auf Orff war durch Katers Untersuchungen geprägt, die sie nicht in Zweifel zogen. Zu prickelnd war das Spiel, einen der Großen der Musikgeschichte vom Sockel zu stürzen. Dass Orff gute Gründe hatte, im Umgang mit den Nationalsozialisten aus reinem Selbsterhaltungstrieb heraus vorsichtig zu sein, ignorierte man. Erst in jüngster Zeit kamen neue Fakten auf den Tisch. Darunter ist eine Entdeckung des österreichischen Historikers Oliver Rathkolb, die, jüngst im Bayrischen Hörfunk ausgestrahlt, ein völlig anderes Bild von Orff zeichnet.

Zum Zeitpunkt der nationalsozialistischen Machtübernahme ist Orff 38 Jahre alt. Die breite Öffentlichkeit kennt ihn als Komponisten kaum, seine wenigen veröffentlichten Chorwerke, zumeist für Chor und ein kleines Instrumentalensemble geschrieben, haben überwiegend Texte von Autoren, die den Komponisten in den Augen der Nationalsozialisten verdächtig machen: Franz Werfel und Bertolt Brecht; Werfel ist Jude, Brecht Kommunist.

Die Nationalsozialisten werden auf Orff aufmerksam, weil er durch sein "Schulwerk" als erstklassiger Musikerpädagoge gilt. Das ist der Hintergrund des Auftrags, für die Eröffnung der Olympischen Spiele 1936 in Berlin den "Kinderreigen" zu komponieren.

Orff ist der NSDAP-Auftrag höchst zuwider, er hat allerdings auch Angst, ihn rundweg abzulehnen. Also bemüht er sich - und das erfolgreich - den NSDAP-Auftrag in einen Auftrag des Olympischen Komitees umzuwandeln - und er schreibt nicht einmal ein neues Werk, sondern lässt seine Mitarbeiterin Gunild Keetman Stücke aus dem "Schulwerk" für diesen Anlass zusammenstellen.

Ein Jahr später sind die Kritiken der NS-Zeitungen über die "Carmina burana" sehr unterschiedlich: Einige jubeln, doch andere schreiben von "artfremden Rhythmen" und "bayrischer Niggermusik". Das Märchenspiel "Der Mond" kommt besser an, bleibt jedoch ebenfalls nicht unumstritten. In der "Klugen" stehen dann Worte, die nur zu gut verstanden werden können, etwa: "Denn wer viel hat,/ hat auch die Macht,/ und wer die Macht hat,/ hat das Recht, /und wer das Recht hat,/ beugt es auch, /denn über allem herrscht Gewalt." Das ist kein offener Widerstand, aber eine deutliche Antipathieerklärung. Orff hat Glück, dass die braunen Machthaber sie im Kontext des Werks offenbar übersehen.

"Arischer" Shakespeare

Doch wie steht es um die "Sommernachtstraum"-Musik? Tatsächlich unternehmen NS-Organisationen Anläufe, Shakespeares Stück, das im deutschen Sprachraum zu dieser Zeit nahezu verbindlich mit Mendelssohn-Bartholdys Musik aufgeführt wird, für die NS-Bühnen gleichsam zu arisieren. Aufträge der NSDAP ergehen, nachdem Hans Pfitzner empört abgelehnt hatte, an drei Komponisten, von denen zwei, Julius Weismann und Winfried Zillig, als politisch verlässlich eingestuft werden, während man dem dritten, Rudolf Wagner-Regeny, linke Attitüden nachsagt, ihn allerdings für einen erstklassigen Komponisten hält, auf den das Regime nicht verzichten will.

Orff ist nicht unter diesen Auftragsempfängern. Seine erste Befassung mit dem "Sommernachtstraum" stammt aus dem Jahr 1917 und ist das Ergebnis einer sich wandelnden Ästhetik. Mendelssohn-Bartholdys Musik verankert das Stück, so schön sie ist, in einer falschen Zeit und einer falschen Auffassung, nämlich der einer rein romantischen Feerie. Orff hingegen wird von der moderneren Auffassung des deutschen Schriftstellers und Regisseurs Otto Falckenberg geprägt, dessen "Sommernachtstraum"-Interpretation einen Brückenschlag zwischen elisabethanischem Theater und Expressionismus versucht.

Orffs Konzept ist keine herkömmliche Schauspielmusik, sondern eine Musikalisierung des gesamten Textes, woraus eine Art Oper für Schauspieler entsteht. Dieses Werk ist kein Ersatz für Mendelssohn-Bartholdy, sondern Ausdruck der Shakespeare-Interpretation Orffs. Es wäre für den Komponisten auch ein Leichtes gewesen, das 1939 uraufgeführte Stück weiterhin spielen zu lassen, doch Orff zieht es zurück und lässt die neue Version von 1943 nicht einmal aufführen. Erst in den 1960er Jahren nimmt der "Sommernachtstraum" finale Gestalt an. Ein NS-nahes Werk kann es damit nur für jene sein, die es partout als solches sehen wollen.

Orff sagt die Wahrheit

Bleibt der dunkle Fleck von Orffs Lüge über sein Verhältnis zur "Weißen Rose". Doch die enttarnt Rathkolb als unvollständige Recherche Katers: Der Kanadier vertraute den Aussagen eines Mitarbeiters der Entnazifizierungs-Kommission und forschte nicht weiter nach. Rathkolb hingegen nahm in die schriftlichen Protokolle Einblick, und es stellt sich heraus: Nicht ein einziges Mal hat Orff behauptet, er sei der "Weißen Rose" nahegestanden. Lediglich von seiner Freundschaft mit dem Musikwissenschafter Kurt Huber hatte Orff gesprochen. Huber war Mitglied der "Weißen Rose" und wurde 1943 hingerichtet. Die Freundschaft zwischen ihm und Orff bestand ohne den geringsten Zweifel. Huber hatte Orff in die Bayrische Volksmusik eingeführt, und Orff hatte wissenschaftliche Publikationen Hubers unterstützt, als dieser bereits den Nationalsozialisten suspekt war.

Dass Orff sich in der Zeit des Nationalsozialismus nicht als Held gerierte, sondern schlicht so sauber wie möglich überleben wollte, mag indessen noch einen anderen Grund gehabt haben: Der ohnedies ängstliche Komponist war nach den Begriffen der Nürnberger Rassegesetze Vierteljude. Er war überzeugt, dass früher oder später auch Menschen, deren einer Großelternteil Jude war, Repressalien zu spüren bekommen würden. Anders gesagt: Orff stand während der gesamten Zeit des Nationalsozialismus Todesangst aus, wagte aber nicht die Emigration, da er sich an die deutsche Sprache und Kultur gebunden fühlte und ein Ende des Nationalsozialismus vorerst nicht absehbar war. Am Ende setzte Adolf Hitler Orff auf die Gottbegnadeten-Liste der für die deutsche Kultur unverzichtbaren Künstler. Auch dafür konnte der Komponist sowenig wie irgendein anderer, der auf der Liste zu stehen kam.

Das Bild von Carl Orffs Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus bedarf damit einer neuerlichen Korrektur: Nach der vom Unverdächtigen zum hemmungslos lügenden NS-Komponisten, muss es jetzt vom NS-Komponisten zum korrekt Auskunft gebenden Unverdächtigen verändert werden. Bleibt zu hoffen, dass die neuerliche Korrektur der Aufmerksamkeit der Musikgeschichtsschreibung nicht entgeht.