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Der Gemeinschaft dienen . . .

Von Thomas Sengelin

Wissen

Dass im Laufe der seit 2007 andauernden, nationalen und internationalen wirtschaftlichen Krisen, die zunehmend auch soziale Spannungen und Radikalisierungen erzeugen, der Ruf, nicht nur des "Volkes", sondern auch politischer Parteien nach einem Solidarbeitrag der "Reichen" in Form höherer Steuerbelastung laut wurde, scheint nicht weiter verwunderlich, wurden doch wohlhabende Mitbürger immer wieder in der Geschichte als wirksames Mittel zur Behebung diverser finanzieller Krisensituationen angesehen und - mehr oder weniger freiwillig - herangezogen.

Wenn die Suche nach Beispielen sich dabei sinnigerweise nur an ähnlichen politischen Verhältnissen orientieren darf - die unzähligen, offenen oder legalisierten Willkürakte ebenso unzähliger Herrscher somit von vornherein ausscheiden -, so mögen die gegenwärtigen demokratischen Systeme hier gleich auch mit den Verhältnissen ihres ideellen, zumindest aber Namen gebenden Ursprungs, also der athenischen Demokratie des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr., in einem kurzen Überblick konfrontiert werden, wobei freilich bei derartigen Vergleichen unmittelbar praktikable Lösungen für die Gegenwart nicht zu erwarten sind.

Tyrannei der Steuern

Wenn Aristoteles es in seiner Darstellung der athenischen Verfassung (55,3) zu den Bürgerpflichten rechnet, Steuern zu zahlen und Wehrdienst zu leisten, so ist ersteres nur unter einschränkenden Erklärungen gültig. Denn so wie in jedem antiken Stadtstaat (polis) herrschte auch in Athen die Auffassung, dass die Bürger - wozu ausschließlich männliche Erwachsene mit athenischem Bürgerrecht zählten - für die laufenden Normalausgaben nicht besteuert werden sollten; Besteuerung von Eigentum oder von Personen galt vielmehr als Zeichen tyrannischer Herrschaft. Außer indirekten Steuern, wie dem im Piräus, dem Hafen Athens eingehobenen Zoll auf alle ein- und ausgeführten Waren und einer Verkaufssteuer für alle auf dem Markt umgeschlagenen Waren, gab es demgemäß keine regelmäßige direkte Besteuerung landwirtschaftlicher Erträge oder gewerblicher Einkünfte.

Die einzige direkte Steuer war die eisphora, eine außerordentliche Vermögenssteuer, die jedoch, ebenso wie der "Dienst an der Gemeinschaft", die Leiturgie (leitourgia), nicht von allen Bürgern gefordert wurde.

Zu Beginn des 6. Jahrhunderts v. Chr. hatte Solon die Bürger Athens in vier nach dem jährlichen landwirtschaftlichen Ertrag bemessene Vermögensklassen eingeteilt: 1. Bürger mit einem Ertrag von 500 Scheffeln Korn bzw. Maß an Öl oder Wein (pentakosiomedimnoi), 2. Reiter (hippeis), 300 Scheffel, 3. Eigentümer eines Ochsengespanns, (Zeugiten), 200 Scheffel, und 4. Tagelöhner (Theten). Diese Klassen waren jedoch keine Steuer-, sondern militärische Zensusklassen, die insofern eine dreiteilige Strukturierung der Bürgerschaft bewirkten, als die Reiter ausschließlich von den beiden oberen Klassen, die schwerbewaffneten Fußkämpfer von den Zeugiten, und die Leichtbewaffneten und Ruderer von den Theten gestellt wurden.

War diese trichotomische Gliederung auch im 5. Jahrhundert noch vorrangig, bewirkten die längeren Friedenszeiten des 4. Jahrhunderts, dass sich die Trennlinien zwischen den zwar weiterhin gültigen Vermögensklassen in der Praxis allmählich zu verwischen begannen und daneben auch eine Zweiteilung der Bürgerschaft nach rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten größere Bedeutung erlangte, indem sich diese nun lediglich in die "Wohlhabenden" und die "Armen" teilte, wobei letztere auf politischer Ebene mit der "Menge", der "Mehrheit" und schlicht dem "gewöhnlichen Volk" gleichgesetzt wurden.

Da die Armen aber entweder gänzlich mittellos waren oder nur über ein Auskommen ohne Überschuss verfügten, waren es ausschließlich die Wohlhabenden, die den Hauptanteil der laufenden Staatsausgaben in Form von "Diensten an der Gemeinschaft" zu decken und die Steuerlast in Form der eisphora zu tragen hatten.

Organisationsaufgaben

Die Leiturgie, durch die prinzipiell gewisse Ausgaben der polis von wohlhabenden Mitbürgern bestritten werden sollten, war gemessen an heutigen Verhältnissen insofern eine ungewöhnliche Art des Steuerzahlens, als mit ihr zusätzlich auch umfangreiche Organisationsaufgaben verbunden waren. Zu ihren Hauptformen zählten die ordentlichen, jährlich wiederkehrenden Festleiturgien und die außerordentliche Trierarchie. War bei den Festleiturgien der finanzielle Aufwand für die großen kultischen Feste der Stadt zu tragen, darüber hinaus aber eben auch für ihre Vorbereitung zu sorgen - etwa für Erhaltung, Ausstattung und Einstudierung eines Tragödien- oder Komödienchores anlässlich des großen Dionysosfestes -, bestand bei der Trierarchie die Verpflichtung, ein Kriegschiff (Triere) ein Jahr lang auszurüsten und zu befehligen (letzteres konnte allerdings auch delegiert werden). Während die Festleiturgien, unter denen es auch weniger kostspielige gab und für die neben Bürgern auch Metöken, d.h. auf Dauer in Athen wohnende Fremde ohne Bürgerrecht herangezogen werden konnten, sich auf jährlich etwa 100 beliefen, war die Zahl der beträchtliche Kosten verursachenden Trierarchien, die nur Bürgern auferlegt wurden, mit der Vergrößerung der athenischen Flotte im Laufe des 4. Jahrhunderts auf etwa 400 angewachsen. Wegen der hohen finanziellen Belastung, die eine Trierarchie darstellte, konnten bereits gegen Ende des 5. Jahrhunderts die Kosten für ein Schiff auch auf zwei leiturgie-pflichtige Bürger aufgeteilt werden.

Befreit von allen Leiturgien waren außer den amtierenden obersten Amtsträgern und Ratsmitgliedern des jeweiligen Jahres auch den Wehrdienst ableistende Epheben und minderjährige Waisen; auch war niemand verpflichtet, mehr als einen "Dienst an der Gemeinschaft" zu übernehmen und konnte sich nach einer Festleiturgie ein Jahr, nach einer Trierarchie sogar für die nächsten zwei Jahre freistellen lassen. Wegen des weiterhin allgemein geltenden kompetitiven Adelsethos war es jedoch für vermögende und ehrgeizige Bürger durchaus üblich, freiwillig mehr Leiturgien als gefordert zu übernehmen, da diese auch Ansehen und politischen Nutzen einbrachten, und die Athener darüber hinaus auch jenem Bürger, der seine Leiturgie am besten erfüllt hatte, offiziell Ehrungen gewährten. Erst im 4. Jahrhundert begann es schwieriger zu werden, genügend Bürger zu finden, die die Bürde eines "Dienstes an der Gemeinschaft" tragen konnten oder wollten, und mancher suchte sich seiner Pflicht zu entledigen, indem er innerhalb eines als Vermögenstausch bezeichneten Verfahrens einen seiner Meinung nach wohlhabenderen Mitbürger benannte, der die Leiturgie an seiner Stelle übernehmen oder im Rahmen eines Gerichtsverfahrens, in dem beide ihre Vermögensverhältnisse offen legen mussten, sein Vermögen mit ihm tauschen sollte.

Im Gegensatz zu den Leiturgien war die eisphora ursprünglich eine außerordentliche direkte Vermögenssteuer, die zur Behebung finanzieller Notlagen - meist in Kriegszeiten - auf Beschluss der Volksversammlung von den Wohlhabenden erhoben wurde. Anfänglich möglicherweise noch progressiv auf die drei oberen solonischen Vermögensklassen aufgeteilt (1, ½, 1 Sechstel Talent), wurde sie im Jahre 378/77 jedenfalls dahingehend reformiert, dass die reichsten Bürger Athens mit einem geschätzten steuerpflichtigen Vermögen von insgesamt etwa 6000 Talenten in 100 Steuergruppen (symmoriai) zu normalerweise jeweils 15 Personen eingeteilt wurden, innerhalb derer der Einzelne proportional zu seinem Vermögensanteil die eisphora leisten musste.

Das Vermögensgefälle

Die Steuerpflicht begann ab einer Vermögensgrenze von drei oder vier Talenten, wobei ein Talent etwa dem entsprach, was ein gewöhnlicher Athener im Laufe von mehr als einem Jahrzehnt verdienen konnte. Die 300 reichsten der auf diese Weise ermittelten steuerpflichtigen Bürger waren auf alle Steuergruppen verteilt und mussten zusammen mit den Zweit- und Drittreichsten ihrer Gruppe sofort nach Bekanntgabe des eisphora-Beschlusses den gesamten Steuerbetrag für ihre Symmorie vorauszahlen und dann von den übrigen Mitgliedern anteilsmäßig eintreiben.

Im Jahre 358/57 wurde das in seiner Einteilung modifizierte Symmoriensystem auch auf die Trierarchie ausgedehnt und die Zahl der Steuerpflichtigen auf rund 1200 eingeschränkt - bei einer angenommenen Gesamtzahl von etwa 30.000 Bürgern. Zwischen 347/46 und dem Ende der athenischen Demokratie 323/22 wurde die eisphora als jährliche Steuer in einer Höhe von zehn Talenten eingehoben, wobei die Volksversammlung bei Bedarf jedoch auch weitere außerordentliche Zahlungen beschließen konnte.

Das beträchtliche Vermögensgefälle zwischen den leiturgie- und steuerpflichtigen "Wohlhabenden" und den "Armen" oder, anders ausgedrückt, Jahresgehälter, die das Lebenseinkommen eines Durchschnittsverdienenden erreichen oder übersteigen, kennen freilich auch wir. Allerdings werden sich heutzutage wohl nur wenige "gewöhnliche" Bürger finden, welche die "Reichen" unter ihnen als "der Gemeinschaft dienend" ansehen würden. Tatsächlich sind in dieser Hinsicht die "Wohlhabenden" gerade in der traditionell (und übrigens aus demselben Grunde wie die Athener) steuerfeindlichen Gesellschaft der USA durch das ausgeprägte private Stifterwesen, das in leiturgieähnlicher, allerdings freiwilliger Weise oft staatliche Aufgaben erfüllt, wesentlich deutlicher im Bewusstsein der Öffentlichkeit präsent als das im europäischen Raum der Fall ist. Man denke etwa an die im Juni 2010 gestartete philanthropische Initiative "The Giving Pledge" von Bill Gates und Warren Buffet, die gerade in Deutschland eine heftige Debatte auslöste, in der Kritiker den Milliardären Eigeninteressen und "Ablasshandel in großem Stil" (Henrik Müller, Spiegel Online 7. August 2010) vorwarfen. Da vermag es kaum zu verwundern, dass manchen hierzulande die Höhe der Steuerlast der "Reichen" - offenbar einziger Gradmesser des "Dienens für die Gemeinschaft" - oft zu gering erscheint.

Studien für verschiedene europäische Länder scheinen diese Optik jedoch als Trugbild zu erweisen. So heißt es in einer Pressemitteilung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (25. Februar 2008), dass die Verteilung der Steuerlast in Deutschland "hoch konzentriert" ist: "Das oberste Zehntel der Einkommensbezieher trägt mehr als die Hälfte zum gesamten Steueraufkommen bei, und beinahe ein Viertel des Steueraufkommens geht auf das oberste eine Prozent der Einkommensbezieher zurück. Dagegen zahlt die untere Hälfte der Einkommensbezieher nur fünf Prozent des Steueraufkommens."

Auch für Österreich wurde als Folge der Steuerreform 2009 prognostiziert, dass einerseits 7,5 Prozent der unselbständig Erwerbstätigen (450.000 Personen) 45 Prozent der gesamten Lohnsteuer entrichten werden, 3 Prozent derselben Gruppe (170.000 Personen) immerhin noch 27 Prozent, während andererseits 2,7 Millionen erwerbstätige Österreicher aufgrund zu geringen Einkommens steuerbefreit sein werden - bei einer Gesamtzahl von 5,9 Millionen Steuerpflichtigen (Franz Schellhorn in "die Presse am Sonntag", 5. April 2009). Wie weit sind wir von athenischen Verhältnissen entfernt? Wie weit sollen und wollen wir uns ihnen nähern?

Literaturhinweise:

Jochen Bleicken, Die athenische Demokratie, Paderborn-Wien-München-Zürich,²1994 (Schöningh).
Mogens Herman Hansen, Die Athenische Demokratie im Zeitalter des Demosthenes. Struktur, Prinzipien und Selbstverständnis. Deutsch von Wolfgang Schuller, Berlin 1995 (Akademie Verlag).

Thomas Sengelin, Studium der Klassischen Archäologie und Alten Geschichte, langjährige Tätigkeit an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, derzeit freiberuflich.