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Freuds Arbeitslast

Von Eva Stanzl

Wissen
Brief von Sigmund Freud an Abraham Brill, 5. 4. 1938: "Dear Brill Überbringer dieses ist mein langjähriger Ohrenarzt Dr Schnierer. Er wird Ihnen gewiß nicht materiell zur Last fallen, aber wird Ihnen gern für Ratschläge und Empfehlungen dankbar sein. Ich wünsche ihm das Beste. Sie wissen wahrscheinlich, daß wir das Land verlassen und nach England übersiedeln wollen. Aber wir könen noch nicht ausreisen. Herzlich Ihr Freud."
© Sigmund Freud Digitale Edition

Digitale Edition und einzige Tonaufnahme zum 75. Todestag des Erfinders der Psychoanalyse.


Wien. Sigmund Freud gilt als einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts. Seine Theorien werden heute noch vielschichtig und kontrovers diskutiert. Er suchte die menschliche Seele mit Hilfe von freier Assoziation und Traumdeutung zu verstehen, wobei er durchaus umstrittene Methoden austestete, wie etwa die Gabe von Kokain. Doch unter welchen Bedingungen fand sein Schaffen statt? Ein bisher unveröffentlichter Briefwechsel mit dem amerikanischen Psychoanalytiker Abraham Arden Brill gibt Aufschluss über diese weitgehend unbekannte Seite von Freud. Die Website "Sigmund Freud Digitale Edition" ist seit heute, dem 75. Todestag Freuds, unter www.freud-edition.net abrufbar. Erstmals sind 120 Briefe und Handschriften zwischen ihm und Brill zu lesen.

Die Dokumentation beginnt am 2. Juli 2008, nachdem Freud Brill die Rechte für die ersten Englisch-Übersetzungen seiner Schriften übertragen hatte. "Man lernt seine Arbeitsbedingungen gut kennen. Brill, der maßgeblich war für die Verbreitung der Psychoanalyse in Amerika, war kein muttersprachlicher Übersetzer. Darüber war Freud unglücklich, er hätte gerne gehabt, dass andere schneller und besser übersetzen. Gleichzeitig war er sehr angewiesen auf Brill und war ihm auch dankbar - er schätzte ihn, und dieses Dilemma kommt heraus", erklärt die Wiener Psychotherapeutin Christine Diercks, Projektleiterin und Vorsitzende der von Freud gegründeten Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. "Der Schriftwechsel verdeutlicht auch, wie viel er gearbeitet hat, wie müde er oft war und was er für eine Last getragen hat, um die Psychoanalyse voranzutreiben", sagt Diercks.

Freud wollte seine Methode verbreiten, Konflikte mit seinen Schülern ausbalancieren und Geld für den finanzschwachen Psychoanalytischen Verlag auftreiben. Außerdem hatte er nicht nur für seine Frau und Kinder, sondern auch für seine Schwägerin, seine Schwester und andere Verwandte zu sorgen. "Er arbeitete bis ins hohe Alter, er musste auch Geld verdienen", erklärt Diercks: "Die Briefe zeigen einen realistischen Freud, der sagt, was er von einer Sache hält, Beziehung einfordert und bestimmte Standards verlangt, aber auch Dankbarkeit zeigt - und das berührt." Außerdem sei der Erfinder der Psychoanalyse um andere Menschen bemüht gewesen: Als er kurz vor seinem Lebensende emigrierte, verhalf er auch anderen dazu, das Land verlassen zu können, und suchte dabei auch die Hilfe von Brill. Sigmund Freud starb am 23. September 1939 in London nach langjähriger Krebserkrankung an einer auf eigenen Wunsch verabreichten Überdosis Morphium.

"Dieses Konvolut ist eine der wichtigsten unter den bisher noch unveröffentlichten Freud-Korrespondenzen", schreibt der Wiener Psychoanalytiker Ernst Falzeder in seinem Vorwort. Die Psychoanalytische Vereinigung will mit ihrer von Julian Roedelius digital umgesetzten Edition aber auch noch weitere Lücken schließen. Bis heute gibt es in keiner Sprache eine Gesamtausgabe aller Schriften Freuds nach den wissenschaftlichen Kriterien einer historisch-textkritischen Edition. "Je nach Finanzierungsmöglichkeiten wollen wir dieses Vorhaben nun in den kommenden 10 bis 20 Jahren abschließen", sagt Diercks. Ergänzt von einem Anmerkungs- und Registerapparat, soll am Ende eine wissenschaftlich überprüfbare Quelle für alle Texte aus Sigmund Freuds Hand vorliegen.

40.000 Schriften fotografiert

Seit Projektbeginn 2009 wurden 40.000 Faksimile-Fotos gemacht. Die meisten Originale liegen in der Library of Congress in Washington, einige auch in der Österreichischen Nationalbibliothek. 11.000 davon sind Briefe. Unterstützt hat das Projekt bisher die Psychoanalytische Vereinigung - für die weiteren Schritte werden Kooperationspartner gesucht und Förderansuchen gestellt, wobei das Ansinnen nicht kommerziell ist und die Dokumente frei zugänglich bleiben sollen. Auch eine Kooperation mit dem Sigmund Freud Museum ist angedacht.

Das Freud Museum verhüllt heute das Museumsschild vor dem Haus Berggasse 19, wo Freud 47 Jahre lang lebte und arbeitete. Die Aktion soll den Verlust verdeutlichen, der Österreich durch den Tod und die Vertreibung des Psychoanalytikers und zahlloser österreichischer Juden prägt. Im Stiegenhaus ist Freuds Stimme zu hören: Die Aufnahme eines Interviews, das er wenige Tage nach seiner Flucht 1938 der BBC gab, ist die einzige erhaltene Tonaufnahme des Erfinders der Psychoanalyse.