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Papageno-Effekt gegen Werther-Effekt

Von Heiner Boberski

Wissen

Wiener Mediziner fanden heraus, wie sich Medienberichte auf die Suizidrate auswirken. | Goethe-Werk löste einst Zunahme der Selbstmorde aus, andere Texte können in Krisen hilfreich sein. | Wien. Seit 1987 ist die Zahl der Selbstmorde in Österreich kontinuierlich gesunken, im Jahr 2009 betrug sie 1273, was einem Rückgang der Suizidrate um 46 Prozent in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten entspricht. Dazu beigetragen haben unter anderem die verbesserte psychosoziale Versorgung, die bessere Behandlung depressiver Erkrankungen, aber auch neue Richtlinien zur Medienberichterstattung über Suizid.


Eine neue Studie der Medizin-Universität Wien konnte nun nachweisen, dass es neben Medienberichten, die in einzelnen Fällen Suizidgefahr heraufbeschwören können, auch Berichte gibt, die das Gegenteil bewirken und hilfreich in schweren Lebenskrisen sind.

Österreichs großer Seelenarzt Viktor E. Frankl (1905 bis 1997) kannte ein markantes Beispiel für die Wirkung der Medien auf die Suizidrate und führte es in Vorträgen immer wieder an: In der amerikanischen Stadt Detroit lag die Selbstmordrate immer sehr hoch, nur während einiger Wochen sank sie plötzlich dramatisch ab. Als man später - die Suizidrate war inzwischen wieder auf das alte Niveau angestiegen - nach einer Ursache suchte, fiel eines sofort auf: "Während dieser Wochen gab es in Detroit einen kompletten Zeitungsstreik."

Das Detroiter Beispiel bestätigte nur, was vielen schon vorher bekannt war. Wenn nicht über Selbstmorde berichtet wird, kommen auch weniger Menschen auf die Idee, in den Freitod zu gehen. Der Nachahmungseffekt bei der Berichterstattung über Suizide wird in der Literatur als Werther-Effekt bezeichnet und geht auf einige Fälle - wirklich nachweisbar ist nur eine zweistellige Zahl - von Imitationssuiziden nach dem Erscheinen von Goethes Werk "Die Leiden des jungen Werthers" im Jahr 1774 zurück.

Ein Forscherteam um Thomas Niederkrotenthaler am Zentrum für Public Health der Wiener Medizin-Uni hat jetzt im Rahmen einer Studie diesen Effekt empirisch abgesichert. Darüber hinaus fanden die Forscher aber auch heraus, dass keineswegs alle Berichte über Suizid ein Gefahrenpotenzial in sich tragen, sondern dass es auch eine Klasse von Berichten gibt, die einen suizidprotektiven Effekt haben können.

Für die Studie, die jetzt auch im "British Journal of Psychiatry" publiziert wurde, übernahm die Österreichische Akademie der Wissenschaften einen Teil der Kosten. Die fünf Wiener Forscher nahmen darin aus sechs Monaten des Jahres 2005 alle Berichte der elf größten österreichischen Tageszeitungen zur Thematik Suizid unter die Lupe und teilten sie in vier Kategorien ein. Sie konnten zeigen, dass eine Kategorie positive Wirkung hatte: Berichte über Betroffene, die Krisensituationen konstruktiv und ohne suizidales Verhalten bewältigen konnten, waren mit einer Senkung der Suizidraten in der Woche nach Erscheinen des Artikels assoziiert. Dieser Effekt war in jenen Regionen, in denen die Berichte von vielen Menschen gelesen wurden, am stärksten ausgeprägt.

Ein solcher präventiver Effekt, so Niederkrotenthaler, sei unter Fachleuten schon seit einiger Zeit diskutiert worden, doch hätten bisher empirische Studien dazu gefehlt: "Wenn es so ist - und davon ist heute zweifelsfrei auszugehen -, dass manche sensationsträchtigen Berichte über Suizide weitere Suizide auslösen können, die ohne Berichterstattung nicht passiert wären, so ist es auch plausibel anzunehmen, dass andere Berichte, die zeigen, wie man eine Krise, in der auch Suizidalität eine Rolle spielt, konstruktiv bewältigen kann, beitragen können, Suizide zu verhindern."

Bedeutung für Prävention

Für diesen Effekt, den die Forscher Papageno-Effekt nennen, habe man nun einen empirischen Hinweis gefunden. In Mozarts Oper "Die Zauberflöte" befasst sich der Vogelfänger Papageno in einer Lebenskrise - er muss den Verlust seiner geliebten Papagena befürchten - intensiv mit Suizidplänen und -vorbereitungen. Doch in letzter Minute können ihn drei Knaben davon überzeugen, dass er die Chance hat, Papagena für sich zu gewinnen.

Die Ergebnisse rund um die Effekte medialer Berichterstattung ist damit um eine wichtige Facette reicher: "Neben dem Werther-Effekt könnte es auch einen suizidpräventiven Papageno-Effekt medialer Berichte geben. Es kommt darauf an, was man daraus macht - das scheint auch für die Gestaltung von medialen Berichten über Suizidalität zu gelten", so Niederkrotenthaler weiter. "Es ist zweifelsohne noch weitere wissenschaftliche Arbeit notwendig, um die Evidenzbasis des nun erstmals beschriebenen Papageno-Effekts zu prüfen, doch die neue Richtung der Hypothesenbildung scheint klar vorgegeben: Medienberichte können nicht nur weitere Suizide auslösen, sondern auch Suizide verhindern. Diesen positive Effekt auf die Bevölkerung in der Suizidberichterstattung entsprechend herauszuarbeiten, ist sicher eine journalistische Herausforderung, aber zweifellos von großer Bedeutung für die Suizidprävention."

Thomas Niederkrotenthaler ist Assistent am Zentrum für Public Health (Abteilung für Allgemein- und Familienmedizin) der Med-Uni Wien, Gründungsmitglied der "Wiener Werkstätte für Suizidforschung", die sich vor allem mit Suizidprävention befasst.

www.suizidforschung.at