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Vom Zufall in der Sprache

Von Eva Stanzl

Wissen
Von Altem Englisch über Shakespeare bis zu aktuellen Autoren: Analyse der Sprach-Evolution anhand von digitalisierten Texten.
© Mitchell Newberry

Auch persönliche Vorlieben verändern Sprache - zumindest im Englischen.


Wien. "Anmut bringen wir ins Leben. Leget Anmut in das Geben. Leget Anmut ins Empfangen, Lieblich ist’s, den Wunsch erlangen. Und in stiller Tage Schranken. Höchst anmutig sei das Danken." Die Zeilen aus Goethes "Faust" vermitteln ein Gefühl dafür, wie Sprache sich im Lauf der Zeit verändert. Noch deutlicher tritt der Wandel am Beispiel des Nibelungenlieds zutage. Damit wir den mit dem Satz "Uns ist in alten mæren wunders vil geseit" beginnenden Heldenepos aus dem 13. Jahrhundert heute verstehen können, müssen wir die mittelhochdeutschen Verse übersetzen: "Uns wurde in alten Erzählungen viel Wundersames gesagt".

Worte vermitteln Geschichten, Gedanken, Ideen, Befehle, Alltagsabläufe, Strukturen und nicht zuletzt Gefühle und andere innere Zustände. Jede Sprache kennt andere Worte und Satzkonstruktionen. Genau diese Vielfältigkeit mag auch ein Grund sein, warum das Fachgebiet der Sprachwissenschaft hitzige Diskussionen kennt.

Linguisten katalogisieren den Wandel im Sprachgebrauch. Dabei erforschen sie, was diese Veränderungen auslöst. Einer Theorie zufolge gibt es so etwas wie eine Richtkraft, die die Evolution der Sprache vorantreibt. Sie wird von gesellschaftlichen Veränderungen und einem sich wandelnden Selbstverständnis, das die Wahrnehmung des Lebens und der Umwelt verändert, ausgelöst.

Um diese These zu hinterfragen, haben sich Linguisten nun mit Evolutionsbiologen zusammengetan. Das US-Team der University of Pennsylvania wollte herausfinden, ob sprachliche Veränderungen gezielt stattfinden, oder ob dabei auch der Zufall seine Finger im Spiel hat.

Willkür lenkt Sprachgebrauch

Die Forschenden haben digitalen Versionen von kommentierten Schriften, die vom 12. Jahrhundert bis heute in englischer Sprache verfasst wurden, in mikroskopischem Detail analysiert. Die Anmerkungen zeigten, dass manche linguistische Veränderungen sehr wohl auf Richtkräfte zurückzuführen sind, die mit der natürlichen Selektion verglichen werden könnten. Andere wiederum beruhen auf reinem Zufall, der mit persönlichen Präferenzen für bestimmte Begriffe, Formulierungen und Ausdrücke zu tun habe, berichten die Forschenden im Fachmagazin "Nature". "Viele Linguisten gehen davon aus, dass Veränderungen im Sprachgebrauch klare, sinnvolle Ursachen haben", erklärt der leitende Autor, Joshia Plotkin, in einer Aussendung seiner Universität zur Studie. Der Professor für Biologie am Institut für Kunst und Wissenschaft betont: "Wir sind hingegen der Ansicht, dass auch die Willkür den Sprachgebrauch lenkt." Jemand hört eine Nutzungsform eines Wortes, die ihm gefällt, und nimmt sie in sein Sprachrepertoire auf. Andere Varianten lässt er links liegen. Über Generationen prägt die Summe der Vorlieben entscheidend die Sprache.

Ähnlich wie genetische Analysen enorme Datenmengen benötigen, damit sichtbar wird, welche Genfrequenzen immer dominanter werden, benötigte die Sprach-Analyse eine große Datenbank an Texten. Nur so konnten die Forschenden ausmachen, was der Selektion und was dem Zufall zuzuschreiben ist. Sie gliederten das Material nach Verben, die im Imperfekt eine regelmäßige und unteregelmäßige Version kennen, und nach ungeklärten grammatikalischen Veränderungen. Analyse-Basis waren 100.000 Texte, die eine Datenbasis von 400 Millionen Worten bilden.

Wie sich laut den Forschern zeigt, änderten nur sechs von 36 ausgewählten Verben ihre Form, um als Antwort auf gesellschaftliche Veränderungen oder phonetische Nachbarschaften leichter ausgesprochen werden zu können. (Etwa ist der Imperfekt "quitted" dem unregelmäßigen "quit" für "habe aufgegeben" gewichen, das sich mit anderen Zeitwörtern im Englischen reimt.) Seltene Verben folgten hingegen keinem derartigen Muster. Sie änderten sich laut den Forschern mit den Vorlieben der Sprecher. Das gleiche gelte für grammatikalische Änderungen.