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Der Stammbaum der Schmetterlinge

Von Eva Stanzl

Wissen
© Florida Museum / Kristen Grace

Vor 100 Millionen Jahren begannen in Nordamerika erste Nachtfalter, auch tagsüber zu fliegen.


Vor rund 100 Millionen Jahren setzten die ersten Nachtfalter in Nordamerika einen Trend. Um sich an Blumennektar laben zu können, begannen sie, auch tagsüber zu fliegen. In dieser Zeit, in der Bienen und Blumen gemeinsam evolvierten, entdeckten die allerersten Schmetterlinge die neue Nahrungsquelle. Ein internationales Forschungsteam hat den entwicklungsgeschichtlichen Sprung mit Hilfe einer groß angelegten DNA-Analyse auf die späte Kreidezeit datiert.

Heute sind Schmetterlinge und Nachtfalter (Lepidoptera) mit fast 160.000 beschriebenen Arten eine der wichtigsten Übergruppen der Insekten. Als Pflanzenfresser, Bestäuber und Beutetiere spielen sie eine grundlegende Rolle in fast allen Ökosystemen der Erde und sind Indikatoren für Umweltveränderungen. In einer neuen Studie hat das Naturhistorische Museum in Gainsville im US-Staat Florida herausgefunden, wo die ersten Schmetterlinge herkamen und von welchen Pflanzen sie sich ernährten. Dazu musste das Team den weltgrößten Stammbaum der Schuppenflügler erstellen. Der Datensatz baut auf dem Erbgut von mehr als 2.000 Arten aus dutzenden Ländern auf, die alle Schmetterlingsfamilien und 92 Prozent der Gattungen repräsentieren.

Warum es so viele Arten gibt

Museumskurator und Erstautor Akito Kawahara und seine Kollegen verfolgten Bewegungen und Fressgewohnheiten der Gruppe im Lauf der Zeit. Wie die Analyse zeigte, traten die ersten Nachtfalter ihren Tagesflug in Nord- und Mittelamerika an, berichten die Forschenden im Fachmagazin "Nature Ecology and Evolution".

"Für mich geht mit diesem Stammbaum ein Kindheitstraum in Erfüllung", wird Kawahara in einer Aussendung zu der Studie zitiert. "Ich wollte so etwas machen, seit ich als Kind im American Museum of Natural History an der Tür eines dortigen Kurators ein Bild einer Schmetterlings-Evolutionsgeschichte sah."

Um die 100 Millionen Jahre alte Geschichte der Gruppe zusammenzufügen, mussten zunächst Informationen über heutige Verbreitungsgebiete und Wirtspflanzen gesammelt werden. "Oft war das, was wir benötigten, in Feldführern enthalten, die nicht digitalisiert waren, oder in unterschiedlichen Sprachen verfasst wurden", berichtet Kawahara. Die Inhalte von Büchern, Sammlungsbeständen und Webseiten mussten übersetzt werden, um dem Ziel, eine öffentlich zugängliche Datenbank der werdenden Schmetterlingsvielfalt zu erstellen, näherzukommen.

Eine weitere Grundlage der Forschungsarbeiten bildeten elf seltene Schmetterlingsfossilien, ohne die eine Gesamtanalyse nicht möglich gewesen wäre. Mit ihren hauchdünnen Flügeln und fädchenartigen Haaren sind Falter nur in Ausnahmefällen fossil erhalten. Daher werden die wenigen, die es gibt, in Schmetterlingsstammbäumen als genetische Kalibrierungspunkte verwendet, also als zeitliche Referenzpunkte für evolutionäre Schlüsselereignisse.

Das Ergebnis erzählt eine dynamische Geschichte voller unerwarteter Wendungen bei Verbreitungswegen und Diversifikation. Einige Gruppen legten enorme Distanzen zurück, andere schienen am selben Ort zu bleiben. Wieder andere veränderten sich, anders als die Landschaft um sie herum, kaum.

Die ersten Schmetterlinge bewohnten ein Nordamerika, das durch einen Meeresarm zweigeteilt war. Mexiko wiederum war mit den Vereinigten Staaten, Kanada und Russland verbunden, während es die Landbrücke von Panama zwischen Nord- und Südamerika noch nicht gab. Die Schmetterlinge hatten allerdings keine Schwierigkeiten, die Meeresenge zu überqueren. Den Weg nach Asien nahmen sie wiederum über die Bering-Landbrücke. Von dort verbreiteten sie sich nach Südostasien, in den Nahen Osten und zum Horn von Afrika. Und sie schafften es nach Indien, das damals eine Insel im offenen Meer war. Weiter im Norden warteten sie hingegen 45 Millionen Jahre in Westasien, bevor sie nach Europa übersetzen. Kawahara zufolge würde das erklären, warum es auf unserem Kontinent im Vergleich zu anderen Teilen der Welt nicht viele Schmetterlingsarten gibt und die vorhandenen auch anderswo zu finden sind.

Schmetterlinge entwickelten sich mit ihren Wirtspflanzen. Als die Dinosaurier vor 66 Millionen Jahren ausstarben, waren fast alle modernen Schmetterlingsfamilien auf der Bildfläche erschienen. Jede scheint eine besondere Affinität zu einer bestimmten Pflanzengruppe gehabt zu haben. Die botanischen Partnerschaften haben dazu beigetragen, dass die Falter sich zu einer der größten Insektengruppen der Welt entwickelt haben, sagt Ko-Autorin Pamela Soltis.