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Big Brothers Feigenblatt

Von Heiner Boberski

Wissen

Neue Technologien müssen Grundrechte und demokratische Werte berücksichtigen.


Wien. Das Jahr 1984 liegt hinter uns, der im Buch "1984" von George Orwell dargestellte Überwachungsstaat nach dem Motto "Big Brother is watching you" aber in Reichweite. Der moderne Mensch muss allerorten mit Kameras (auf Flughäfen sogar mit "Nacktscannern"), mit Lauschangriffen und Rasterfahndungen sowie mit der Sammlung und Vernetzung sämtlicher irgendwo, insbesondere im Internet, preisgegebener persönlicher Daten rechnen. Dem brisanten Verhältnis von Überwachung, Sicherheit und Privatsphäre widmen sich nun drei neue EU-Forschungsprojekte. 30 Partner aus zwölf europäischen Ländern sind dabei, das Auftakt-Treffen fand von 13. bis 16. Februar an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien statt.

Ausgangspunkt der drei bis 2015 anberaumten Studien "Surprise" (Surveillance, Privacy and Security), "Prisms" (Privacy and Security Mirrors) und "Iriss" (Increasing Resilience in Surveillance Societies) ist die von Politikern häufig vertretene These, ein Mehr an Sicherheit könne nur mit mehr Überwachung erzielt werden, was nun einmal bedeute, dass auch Einschränkungen beim Grundrecht auf Privatsphäre in Kauf genommen werden müssen.

Johann Cas vom ÖAW-Institut für Technikfolgen-Abschätzung und seine Kollegen Michael Friedewald (Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung, Karlsruhe) und Reinhard Kreissl (Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie, Wien) standen dieser These in einem Pressegespräch in Wien mit Skepsis gegenüber. Surprise-Koordinator Cas sieht die Ursachen heutiger Unsicherheit eher in der wirtschaftlichen Entwicklung als in der Angst vor Terrorismus. Kreissl glaubt nicht, dass Kameras Verbrechen verhindern, sondern nur das Fassen der Verbrecher erleichtern können.

Im ersten Schritt des Surprise-Projekts gehen Experten entsprechenden Fragen nach: Inwieweit sind für mehr Sicherheit wirklich Eingriffe in die Privatsphäre nötig? Gibt es Alternativen? Können Sicherheitstechnologien durch technische und organisatorische Vorkehrungen so gestaltet werden, dass das Risiko von Verletzungen der Privatsphäre minimiert wird? Welche Rolle können Gesetze und Richter spielen? Als zweiter Schritt werden die Ergebnisse dieser Studie präsentiert und mit rund 2500 Personen aus neun europäischen Staaten diskutiert und bewertet. Damit sollen Leitlinien für die künftige Sicherheitsforschung und Empfehlungen für die Sicherheitspolitik entwickelt werden, die im Einklang mit Grundrechten und demokratischen Werten stehen.

"Akzeptable Technologien müssen die Interessen der Bürger mit an Bord nehmen", betonte Prisms-Koordinator Friedewald, der wie seine Kollegen für "Privacy by Design" eintrat: Neue Produkte müssten schon im Ansatz die Privatsphäre der Bürger berücksichtigen. Im Prisms-Projekt soll eine EU-weite repräsentative Befragung von 27.000 Bürgern feststellen, wie diese die Einführung von Sicherheitstechnologien und deren Auswirkungen auf ihre Grundrechte bewerten.

Wirkungen auf Demokratie

Das von Reinhard Kreissl koordinierte Projekt "Iriss" bindet die Bürger durch Interviews und empirische Studien ein und untersucht die gesamtgesellschaftlich wirkenden Aspekte unterschiedlicher Überwachungspraktiken auf die Struktur demokratischer Gesellschaften. Für Kreissl hat ein Sicherheitsapparat heute bereits theoretisch - technisch und nötigenfalls auch gesetzlich gedeckt - weit mehr Möglichkeiten als seinerzeit die DDR-Staatssicherheit: "Wir haben den Polizeistaat in der Schublade." Verglichen mit den Summen, die heute im Bereich der Überwachungstechnologien - einem blühenden Markt - investiert würden, seien die nun anlaufenden Forschungen relativ bescheiden dotiert: "Wir sind die Feigenblätter des europäischen Sicherheitsprogramms."