Heuer jährt sich der "Anschluss" Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich bereits zum achtzigsten Mal. Zwar werden immer wieder Stimmen laut, die der Aufarbeitung müde, der Erinnerung überdrüssig sind. Aber gerade in einer Zeit, in der Populismus mit Volksnähe und Hetze mit Meinung verwechselt werden, ist ein Erinnern der Geschehnisse, die diesem Regime den Weg geebnet haben, wohl notwendiger denn je. Wie wir Historisches erinnern und was sich im kollektiven Bewusstsein festsetzt, dafür legt nicht zuletzt unsere Sprache subtiles Zeugnis ab. Je öfter der Begriff des "Anschlusses" die Headlines pflastert, desto stärker fällt etwa auf, dass er stets von Anführungszeichen flankiert wird - den orthografischen Botschaftern des Sogenannten. Worüber sprechen wir aber eigentlich genau, wenn wir über den "Anschluss" sprechen? Und warum steht er auf Gänsefüßchen?

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Den Begriff selbst haben die Nationalsozialisten laut Florian Wenninger, Historiker an der Universität Wien, in ihrer Propaganda neu aufgeladen, um die gewaltsame Machtübernahme zu verschleiern. Völlig plausibel also, dass Redaktionen österreichischer Qualitätszeitungen die Anführungszeichen mit einer Distanzierung von der nationalsozialistischen Diktion begründen.

Keine Nazi-Erfindung

In der Forschung ist man sich, was die Anführungszeichen angeht, nicht unbedingt einig: Manche Geschichtswissenschaftler wie der österreichische Historiker Kurt Bauer verzichten auf die Gänsefüßchen im Sinne der besseren Lesbarkeit ihrer Texte. Die historische Verortung solcher Begriffe ergebe sich ohnehin aus dem Zusammenhang. Eine tiefere politische Bedeutung sieht Bauer in den Anführungszeichen nicht: "Es hat sich eben eingebürgert, es gilt als politisch korrekt." Hört man sich bei einigen anderen Historikern um, ergeben sich allerdings zahlreiche, teils widersprüchliche, aber für ebenbürtig plausibel befundene Möglichkeiten, die bedeutungsschwangeren schriftlichen Beiwagerln zu begründen.

Der "Anschluss" Österreichs an Deutschland ist nämlich längst keine Erfindung der Nazis. Anschlussbestrebungen gab es bereits weit vorher: "‚Anschluss‘ in Bezug auf das deutsch-österreichische Verhältnis wird ab 1848 erstmals stark politisiert", sagt der österreichische Historiker Hannes Leidinger. Mit dem drohenden Zusammenbruch der Habsburger-Monarchie habe sich für viele Deutsch-Österreicher die Frage ergeben, wohin sie nach diesem Fall gehörten. Nach dem tatsächlichen Niedergang der Monarchie mit dem Ende des Ersten Weltkriegs waren es 1918 vor allem die Sozialdemokraten, die das gebeutelte Österreich der sozialdemokratischen Weimarer Republik zuführen wollten. Diese Anschlussbestrebungen, von der Unsicherheit der staatlichen Überlebensfähigkeit einer kleinen Republik mit großer Vergangenheit getragen, sind allerdings kaum einer politischen Richtung zuzuordnen. "Praktisch alle gesellschaftlichen Kräfte sahen Österreich nach dem Zusammenbruch 1918 als Teilstaat des Deutschen Reichs", so Gerhard Jelinek, der sich in seinem Buch "Es gab nie einen schöneren März" mit der Zeit kurz vor dem Einmarsch Hitlers befasst.