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"Es ist gut, dass die Schwester tot ist"

Von Daniel Bischof

Lebenslange Haft für Mann, der Schwester wegen "Befleckung der Familienehre" erstochen haben soll.


Wien. Die Familie. Ständig wird am Mittwoch in Saal 203 des Wiener Straflandesgerichts von ihr geredet. Von ihrem Willen, ihrer Ehre und den Rollen, die jeder in ihr einzunehmen hatte. Eine richtige Besessenheit für sie soll sich beim Angeklagten S. entwickelt haben. "Sein Befinden und sein Denken kreist ausschließlich um seine Familie", sagt Psychiaterin Gabriele Wörgötter.

Keine Grenzen soll der Glaube ans Kollektiv gekannt haben. Seine Schwester soll S. am 18. September 2017 in Favoriten erstochen haben – weil sie sich der Familie wiedersetzte. "Es ist gut, dass die Schwester tot ist. Sie hat die Ehre der Familie befleckt", sagte er bei der Polizei aus, nachdem er sich gestellt hatte.

Was genau mit der "Befleckung der Familienehre" gemeint ist, dazu äußert sich der wegen Mordes angeklagte S. am Mittwoch vor dem Geschworenengericht (Vorsitzender Richter: Stefan Apostol) nicht. Nur ein paar Sätze gibt er mit leiser Stimme von sich.

"Ich gestehe. Ich möchte Sie alle um Verzeihung bitten. Ich möchte nicht mehr weitersprechen", erklärt der Afghane. Doch fügt er dann doch noch hinzu: "Ich habe diese Straftat wegen der Kultur begangen."

Was er denn damit meine, fragt der beisitzende Richter Georg Olschak. "Ich möchte nicht mehr weitersprechen", antwortet der junge Mann, von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machend. Dieses Mal bleibt sein Mund verschlossen.

"Selbst ein Opfer"

S. kam mit seiner Familie 2013 aus Afghanistan nach Österreich. Nach ihrer Flucht hätte die Familie "gewisse Sitten und Riten nicht abgelegt", sagt Verteidiger Nikolaus Rast. S. sei "selbst ein Opfer der Familie" und vom Vater geschlagen worden.

Die Schwester wollte sich den afghanisch-patriarchalischen Familienstrukturen nicht weiter fügen. "Sie wollte einen Neuanfang", erklärte Staatsanwalt Mario Bandarra. Die junge Frau habe das Kopftuch abgelegt und eine Beziehung mit einem Afghanen begonnen.

Zu Hause soll sie vom Vater und – auf dessen Anweisung hin – von ihren Brüdern geschlagen worden sein. Sie flüchtete nach Graz, kehrte aber nach Wien zurück. Es kam zu einer weiteren Flucht in ein Krisenzentrum in Wien am 14. September 2017. Einer Betreuerin erklärte sie, dass sie sich vor ihrer Familie fürchte. Ihr Vater wolle sie in Afghanistan zwangsverheiraten.

Am 18. September 2017 wartete S. bei der U-Bahn-Station Reumannplatz auf sie. Bei der Polizei gab er an, dass er sie überreden habe wollen, wieder nach Hause zu kommen. Die beiden gingen in einen Innenhof. Die Schwester soll S. dort im Zuge des Gesprächs gestoßen haben.

"Kein Respekt"

"Sie zeigte mir zu diesem Zeitpunkt, dass sie keinen Respekt vor mir hat", erklärte S. bei seiner polizeilichen Einvernahme. Daher habe er ihr auch keinen Respekt gezeigt. S. soll seine Kampfmesser gezogen und 28 Mal auf sie eingestochen haben.

Eine "enorm aufgestaute Wut und Hass" seien bei S. vorhanden gewesen, sagt Psychiaterin Wörgötter. Sie gibt aber auch an, dass S. ihr bei der Begutachtung keinen "Einblick in sein Innenleben gewährt" habe. Ihr sei es so vorgekommen, als dass S. "etwas zu verstecken hat". Der Verdacht, dass der Vater oder die Familie den Mord angeordnet haben oder sonst involviert waren, konnte nicht erhärtet werden.

Diskussion um Alter

Unklarheiten gibt es hinsichtlich des Alters des Angeklagten. S. gibt an, 19 zu sein, damit wäre das Jugendstrafrecht anzuwenden, das eine Höchststrafe von 15 Jahren und den Wegfall einer Mindeststrafe bei Mord vorsieht. Der Richtersenat folgt jedoch den Ausführungen eines anthropologischen Gutachters, wonach S. zum Tatzeitpunkt mindestens 21 Jahre und drei Monate alt war – womit das Erwachsenenstrafrecht zum Tragen kommt.

Die Geschworenen verurteilen den Angeklagten einstimmig zu einer lebenslangen Haftstrafe. Das Urteil ist nicht rechtskräftig, Verteidiger Rast meldet Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung an. Zwar liege mit dem Geständnis ein Milderungsgrund vor, sagt Richter Apostol. Die besondere Brutalität und die besonders verwerfliche Motivlage seien bei der Strafbemessung aber zu berücksichtigen. "Mit dieser Tat haben Sie sich außerhalb der Gesellschaft gestellt. Dafür kann es nur die Höchststrafe geben."