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Preiskampf über soziale Sicherheit

Von Markus Bruckmüller und Lena Karasz

Recht
Auf einer großen Baustelle führt ein slowenisches Unternehmen allein 113.287 Euro weniger an die Sozialversicherung ab als ein vergleichbarer Mitbewerber aus Österreich.
© adobe.stock / photo 5000

Gegen Slowenien ist wegen der Verletzung des EU-Beihilfenrechts ein Verfahren bei der EU-Kommission anhängig.


Nicht nur über den Steuerwettbewerb versuchen manche EU-Mitgliedstaaten für ihre Unternehmen einen Vorsprung gegenüber Mitbewerbern zu verschaffen. Zunehmend findet der Wettbewerb innerhalb der EU auch über niedrige Sozialversicherungsbeiträge statt. Denn obwohl die europäische Integration eine gewisse Abstimmung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit erfordert, obliegt die konkrete Ausgestaltung der Sozialversicherungssysteme nach wie vor den Mitgliedsländern. Einige EU-Staaten nützen diese Autonomie, um ihren Unternehmen Wettbewerbsvorteile gegenüber europäischen Mitbewerbern zu verschaffen. Indem sie für bestimmte Sektoren die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung senken, ermöglichen sie heimischen Unternehmen, andere europäische Mitbewerber im Preiskampf zu unterbieten.

Damit der Wettbewerb um niedrige Sozialversicherungsbeiträge nicht dieselbe Intensität annimmt wie jener um geringe Unternehmenssteuern, haben einige Gewerkschaften - darunter der Deutsche Gewerkschaftsbund - 2019 die EU-Kommission eingeschaltet. Die österreichische Arbeiterkammer schloss sich dem Verfahren im selben Jahr mit einer eigenen Beschwerde an. Konkret handelt es sich um eine Beschwerde gegen Slowenien wegen verbotener staatlicher Beihilfen. Das Verfahren ist bei der Generaldirektion Wettbewerb der EU-Kommission anhängig. Eine Entscheidung steht noch aus.

Wenn Staaten öffentliche Gelder verwenden, um heimische Wirtschaftszweige oder Unternehmen zu stützen, können sie dadurch unlautere Vorteile gegenüber vergleichbaren Branchen in anderen EU-Ländern erzeugen. Gemäß Unionsrecht sind daher staatliche Unternehmensbeihilfen grundsätzlich verboten, wenngleich die EU-Kommission in Krisenzeiten großzügige Ausnahmeregelungen zur Stützung der Wirtschaft ermöglicht. Im anhängigen Rechtsfall handelt es sich jedoch nicht um eine solche Hilfsmaßnahme, sondern um eine wettbewerbsverzerrende Begünstigung slowenischer Unternehmen, die Arbeitskräfte ins Ausland entsenden.

EU-weit gilt einheitlich für Entsendungen die Verpflichtung, dass einem entsandten Arbeitnehmer für die Dauer der Entsendung zwingend zumindest der Lohn gebührt, der in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet die Arbeitsleistung erbracht wird, vorgeschrieben ist. Einem aus Slowenien entsandten Bauarbeiter steht also der in Österreich kollektivvertraglich festgelegte Lohn zu, und nicht der (regelmäßig weit niedrigere) slowenische Mindestlohn. Das slowenische Sozialversicherungsrecht regelt allerdings, dass im Falle der Entsendung eines Arbeitnehmers oder einer Arbeitnehmerin der Sozialversicherungsbeitrag vom nationalen Mindestlohn und nicht vom Anspruchslohn zu berechnen ist.

Spezifische Ausnahme für entsandte Arbeitnehmer

In Österreich entrichtet ein Arbeitgeber für einen Facharbeiter, den er Vollzeit auf einer Baustelle einsetzt, einen Sozialversicherungsbeitrag von monatlich 643,41 Euro. Ein slowenisches Unternehmen, das einen Facharbeiter auf eine Baustelle nach Österreich entsendet, muss indes nur 190,26 Euro an die Sozialversicherung abführen. Der Unterschied ergibt sich erstens aus der niedrigeren Prozentzahl (in Österreich: 21,58 Prozent, in Slowenien: 16,10 Prozent) und zweitens aus einer Besonderheit des slowenischen Sozialversicherungsrechts, die eine spezifische Ausnahme für entsandte Arbeitnehmer vorschreibt: Die Arbeitgeberbeiträge des slowenischen Facharbeiters sind nicht nach seinem Anspruchslohn in Österreich zu berechnen, sondern unter Zugrundelegung des vergleichbaren Lohns in Slowenien. Dieser ist in der Baubranche traditionell niedrig, sodass die gesetzliche Mindestbemessungsgrundlage für die Sozialversicherung von derzeit 1.181,75 Euro (60 Prozent des slowenischen Durchschnittslohns von derzeit 1.969,59 Euro) zum Tragen kommt. 16,10 Prozent davon betragen 190,26 Euro.

Auf einer großen Baustelle, wo 50 Facharbeiter fünf Monate im Einsatz sind, führt ein slowenisches Unternehmen allein 113.287 Euro weniger an die Sozialversicherung ab als ein vergleichbarer Mitbewerber aus Österreich. Da in Österreich auch das Lohnniveau höher ist, liegt der Vorteil für die entsendenden Unternehmen sogar deutlich höher. In der Baubranche, wo der Wettbewerb vorrangig über den Preis entschieden wird und die Personalkosten einen verhältnismäßig hohen Anteil an den Gesamtkosten ausmachen, bewirkt der Verzicht der staatlichen slowenischen Sozialversicherungsträger auf nennenswerte Beiträge einen ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil für die entsendenden Unternehmen und stellt eine unzulässige staatliche Beihilfe dar. Zusätzlich ist die Regelung auch unsozial, denn dem entsandten Arbeitnehmer stehen für die Zeit der Entsendung bloß die entsprechend niedrigeren Pensionszahlungen zu.

Betroffen sind insbesondere Beschäftigte österreichischer Unternehmen des Bau- und des Baunebengewerbes. Zwar ist die Auftragslage der heimischen Bauunternehmen noch gut, aber die extreme Teuerung, der Rohstoffmangel und Lieferengpässe schlagen sich auf die Umsätze nieder. Die unsichere wirtschaftliche Lage und prognostizierten Einbußen veranlassen Unternehmen letztlich dazu, durch Abbau des Stammpersonals Arbeitskosten zu reduzieren. Das slowenische Modell, kostengünstig Personal zur Verfügung zu stellen, floriert in Österreich daher besonders in der Krise. Nach wie vor ist Slowenien das Land, aus welchem die meisten Entsendungen in die österreichische Bauwirtschaft erfolgen: 35 Prozent aller Arbeitskräfte, die von Jänner bis April 2022 in die österreichische Bauwirtschaft entsendet wurden, stammten aus slowenischen Unternehmen.

Einfallstor für Entsendungen aus dem Westbalkan

Dabei besitzt der Großteil der nach Österreich entsendeten Beschäftigten nicht die slowenische Staatsbürgerschaft. Die österreichische Bauarbeiter Urlaubs- und Abfertigungskasse wertete die Staatsbürgerschaften der kontrollierten Beschäftigten von Unternehmen aus Slowenien im Jahr 2021 aus: 65 Prozent der Arbeitskräfte, die aus slowenischen Unternehmen nach Österreich entsendet wurden, besaßen die Staatsbürgerschaft von Bosnien Herzegowina. Sie wurden oft nur zum Schein einen Tag in Slowenien beschäftigt, um unmittelbar im Anschluss auf eine österreichische Baustelle entsendet zu werden.

Der Wettlauf um niedrigere Sozialversicherungsbeiträge beschert zwar einigen wenigen Unternehmen satte Gewinne, erzeugt für die Gesamtgesellschaft aber hohe Wohlfahrtsverluste. Der Trend, im Wettbewerb Unternehmenssteuern und Sozialversicherungsbeträge immer weiter zu senken, vernichtet Arbeitsplätze und gefährdet den Zusammenhalt in der EU. Mit Spannung bleibt daher abzuwarten, welchen Weg die EU-Kommission in diesem Fall beschreiten wird. Ihre Entscheidung wird weitreichende Folgen für die Zukunft des europäischen Binnenmarktes haben.