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Wie neutral ist Österreich?

Von Peter Hilpold

Recht
© Fotolia/sunflower

Ein Denkanstoß für die Zukunft.


Die Frage der Beteiligung Österreichs an den Sanktionen gegen Russland hat wieder einmal Grundfragen zur Position Österreichs in der internationalen Staatengemeinschaft sowie in der EU aufgeworfen. Auf fachlicher Ebene sind diese längst geklärt, aber selbst auf dem internationalen politischen Parkett wird das offenkundig nicht wirklich wahrgenommen.

So soll der ehemalige schwedische Außenminister Carl Bildt behauptet haben, Österreich habe nach dem Giftgasanschlag von Salisbury eine Beistandspflicht gemäß Art. 42 Abs. 7 EUV. Tatsächlich ist hier aber die behauptete Beistandsverpflichtung gemäß Art. 42 Abs. 7 EUV nicht im Mindesten relevant, und zwar schon allein deshalb nicht, da kein "bewaffneter Angriff" im Sinne der Satzung der Vereinten Nationen vorliegt.

Der Vergleich mit Schweden geht ins Leere

Andererseits geht auch der Vergleich der österreichischen Außenpolitik mit jener des angeblich ebenfalls neutralen Staates Schweden (sowie mit jeder daraus abgeleiteten Verpflichtung) ins Leere, eben weil Schweden schon längst seine Neutralität zugunsten einer Bündnisfreiheit aufgegeben hat. Damit erübrigt sich auch jede weitere Überlegung, ob Österreich aus dem Neutralitätsrecht eine Ausnahme geltend machen kann. Die Akkreditierung von Botschaftern verbleibt immer noch im souveränen Zuständigkeitsbereich der einzelnen Mitgliedstaaten.

Ganz grundsätzlich ist es müßig, zu prüfen, ob hier das Neutralitätsstatut eng (im Sinne der alten "Bindschedler-Doktrin" der Schweiz, die dem außenpolitischen Handeln der Neutralen im Kalten Krieg extrem enge Grenzen gezogen hat) oder weit (also unter Zulassung weitreichender Ausnahmen) zu interpretieren ist. Die neutralitätsrechtliche Diskussion ist längst schon - ob man das nun will oder nicht - eine neutralitätspolitische geworden, wobei Österreich der Neutralitätspolitik einen Gehalt nach eigenem Belieben beimisst - bei gleichzeitigem weitgehendem Desinteresse der Staatengemeinschaft.

Auch aus Art. 222 AEUV ist kaum eine konkrete rechtliche Verpflichtung für diesen Kontext abzuleiten. Obwohl diese Bestimmung vielsprechend den Titel "Solidaritätsklausel" trägt, enthält sie allenfalls Ansätze zur Regelung der sehr komplexen Solidaritätsfrage im EU-Recht. Diese Bestimmung sieht zwar ein gemeinsames Handeln der Union und ihrer Mitgliedstaaten im Falle eines Terroranschlags vor, konkretisiert diese Verpflichtung aber für die Mitgliedstaaten nur ansatzweise. Möglich wäre ein Hilfeersuchen des von einem territoristischen Angriff betroffenen Mitgliedstaats an Österreich (Art. 222 Abs. 2 AEUV), doch liegt ein solches Ansuchen nicht vor, und zudem könnte sich ein solches wohl kaum - und sicherlich nicht ausschließlich - auf den diplomatischen Verkehr beziehen.

Insgesamt handelt es sich hier also um einen in erster Linie politischen Kontext, und weder aus dem Völkerrecht noch aus dem EU-Recht lassen sich rechtliche Handlungspflichten Österreichs ableiten. Das mag bedauerlich erscheinen, und politisch stehen Österreich natürlich zahlreiche Optionen offen. Nicht zielführend ist es aber, aus dem bestehenden Völkerrecht und dem EU-Recht Verpflichtungen ableiten zu wollen, die die einschlägigen Regelungen nicht hergeben. Von derart weitreichenden bindenden Solidaritätsverpflichtungen sind wir noch weit entfernt, und gerade der jetzige Stand der europapolitischen Diskussion lässt eine Entwicklung hin zu mehr Solidarität auch in absehbarer Zeit nicht erwarten.

Grundsätzlich wäre ein Mehr an Solidarität in der EU sicherlich wünschenswert, wie die aktuellen Herausforderungen zeigen. Das Solidaritätsprinzip wirkt aber reziprok und führt zu einer zunehmenden Verdichtung der Integration. Tatsächlich nehmen jedoch immer mehr Mitgliedstaaten Ausnahmen für sich in Anspruch und widersetzen sich einer Vertiefung der Integration. Von einer Solidaritätsverpflichtung beziehungsweise einer Verpflichtung zum Gleichklang, die auch die traditionellen Kernbereiche der nationalen Souveränität erfassen würden - und dazu zählt sicherlich auch der diplomatische Verkehr mit Drittstaaten -, können wir gegenwärtig also nicht sprechen.

Es ist im Übrigen auch kennzeichnend für die Dimension der gegenwärtigen Problematik, dass die aktuelle Solidaritätsdebatte durch Vorfälle in einem Land ausgelöst wurde, das sich anschickt, die EU zu verlassen. Dabei ist der Brexit gerade auch als Reaktion auf eine Entwicklung zu sehen, in der die Bevölkerung ein Übermaß an Solidaritätsverpflichtungen (wobei im Besonderen die Freizügigkeitsrechte der Unionsbürger zur Debatte standen) gesehen hat. Die Vorteile aus der europäischen Integration werden immer noch in einer viel zu kurzfristigen Perspektive betrachtet, wobei übersehen wird, dass sich der Nutzen einer intensivierten Solidaritätsverpflichtung gerade bei unerwarteten, unvorhergesehenen Ereignissen zeigen kann.

Denkanstoß für die Zukunft der europäischen Integration

Vielleicht ist der Ausdruck "Solidarität" im europäischen Integrationsprozess auch zu vollmundig verwendet worden und hat Erwartungen geweckt, die gerade in Krisenfällen nicht erfüllt werden können. Die aktuellen Entwicklungen wären somit sicherlich ein guter Anlass, über die Zukunft der europäischen Integration nachzudenken. Über das Maß an Solidarität, das jeder einzelne Mitgliedstaat erwarten kann und zu bieten bereit ist, sowie über die Einschnitte in die nationale Souveränität, die man auf mitgliedstaatlicher Ebene als Ausgleich für mehr Sicherheit hinzunehmen gewillt ist.

Auf fachlicher Ebene sind die Grundfragen zur Position Österreichs in der internationalen Staatengemeinschaft und in der EU längst geklärt - auf dem politischen Parkett wird das aber offenkundig nicht wirklich wahrgenommen.

Peter Hilpold ist Professor für Völkerrecht, Europarecht und Vergleichendes Öffentliches Recht an der Universität Innsbruck und Autor von mehr als 250 Publikationen.