Zum Hauptinhalt springen

Streiten lernen

Von Judith Belfkih

Leitartikel
Judith Belfkih, stellvertretende Chefredakteurin der "Wiener Zeitung".

Von den USA bis Ungarn, von Brasilien bis Italien: Populisten des rechten (und linken) Lagers sind weltweit auf dem Vormarsch. So weit, so bekannt. Die von schlagkräftigen Parolen zurückgedrängte und vielerorts bereits in ihrer Existenz bedrängte Mitte gerät weiter unter Druck. Debattenführerschaft sieht anders aus, hilflose bis ratlose Defensive beherrscht das Bild. Durchbrochen nur vom Jammern über das Bröckeln der eigenen Relevanz und von internen Grabenkämpfen bei Parteien der Mitte oder links davon. Ebenfalls bekannt.

Die Mechanismen jedoch, die in diesen inneren Reibereien stecken, sind philosophischer, als sie auf den banalen ersten Blick erscheinen mögen. Oft münden sie in der Beantwortung der Frage, wie denn nun mit populistischen Positionen umzugehen sei. Dabei geht es um nicht weniger als die Neuverhandlung des Selbstverständnisses von Demokratie.

Auf der einen Seite steht die Haltung, radikale, aktuell meist rechte Stimmen a priori aus dem politischen Spielfeld auszuschließen, gar nicht erst zum Diskurs zuzulassen oder im besten Fall einfach nicht ernst zu nehmen. Wohin diese vielerorts praktizierte Verhaltensweise führt, zeigen die Wahlergebnisse der vergangenen Jahre. Denn was mit der Abwertung populistischer Positionen auch passiert: Die ganz realen Probleme der Menschen, die ihre Slogans benennen oder kanalisieren, werden damit ebenfalls diskreditiert. Reale Sorgen als nicht existent abzutun - wenn auch mit differenzierten, vernünftigen Argumenten -, treibt sie direkt ganz in die Arme populistischer Gruppierungen.

Auf der anderen philosophischen Seite steht ein Demokratieverständnis, das die Sachebene (wieder) in den Mittelpunkt stellt. Wie umgehen mit eingefahrenen Positionen auf beiden Seiten? Das beantwortet sich hier nicht nur in einem Zuhören und im Versuch, verstehen zu wollen, wie die Position der Gegenseite eigentlich entstanden ist, was dahintersteht. Es geht vielmehr um eine neue Streitkultur, die den politischen Gegner - zumindest - als mündig erachtet. Natürlich birgt das Verstehen-Wollen die Gefahr, das eigene politische Korsett ins Wanken gebracht zu sehen - zumindest aber auch die eigene Position zu hinterfragen. Darüber zu streiten, was vernünftig ist und was nicht, birgt dennoch weniger Risiken, als eine Seite als unvernünftig abzutun. Stabile und tragfähige Brücken entstehen im Idealfall von zwei Seiten aus. Ihr Fundament besteht bei gesellschaftlichen Gräben aus Einsichten auf beiden Seiten: Bei der einen ist es die anerkennende Erkenntnis, dass die populistisch angeprangerten Probleme real sind; und bei der anderen das Einräumen der realistischen Möglichkeit, dass für die Probleme auch eine Lösung denkbar ist.