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Offen für Widersprüche

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
Walter Hämmerle.
© Luiza Puiu

Was sollen wir nur tun? Die Sozialdemokratie, die nun Pamela Rendi-Wagner zu ihrer ersten Vorsitzenden in 130 Jahren wählt, erinnert derzeit an die Ratlosigkeit der einstigen Naturvölker, die - von der rasanten Ausbreitung einer neuen Welt bedroht - am Lagerfeuer zusammensaßen und verzweifelt über ihre Zukunft berieten.

Die Konkurrenz sollte sich vor Schadenfreude hüten. Die von den Kräften der Globalisierung ausgelöste politische Dynamik hat das Zeug, alles und jeden hinweg zu reißen. Wer heute auf der Welle surft, kann morgen schon unter ihr begraben sein. Noch fällt uns der Gedanke schwer, aber es spricht viel dafür, dass der Wind, der unserer Gegenwart ins Gesicht bläst, weder von links noch von rechts kommt, sondern gar keine ideologische Heimat hat. Und also kann es auch kein Bündel an weltanschaulich schlüssigen Antworten auf all die drängenden Fragen geben.

Das ist natürlich eine schlechte Nachricht für die Gläubigen einer Partei, jeder Partei. Aktivisten aller Schattierungen brennen und laufen für eine Idee. Für Politikerinnen wie Rendi-Wagner muss aber die Widersprüchlichkeit der Gegenwart (diese war natürlich immer schon so, wurde aber in der Vergangenheit nicht immer auch als solche erlebt) nicht zwingend ein Nachteil sein. Womöglich gelingt es ihr sogar, daraus einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil bei den Wählern zu ziehen.

Anders als geschlossene ideologische Konstruktionen schaffen es mitunter Politiker - das heißt: Projektionsflächen aus Fleisch und Blut -, die notwendige Offenheit für unterschiedliche Zugänge zu unterschiedlichen Problemen glaubwürdig politisch zu verkörpern. Jedenfalls die Talentiertesten und Besten unter ihnen.

ÖVP-Chef Sebastian Kurz genügte es, um im Herbst 2017 gewählt zu werden, die Sehnsucht nach einer Wende in der Migrationspolitik zu verkörpern.

Im Falle Rendi-Wagners und der SPÖ gibt es in der aktuellen Situation keine damit vergleichbare simple Botschaft. Stattdessen müssen beide einen politisch heiklen Spagat meistern, der die meist jüngeren, weltoffenen Modernisierungsgewinner mit den oft älteren, verängstigten Verlierern der Globalisierung verbindet. Eine geschlossene Ideologie kann das nicht schaffen, eine Politikerpersönlichkeit, die beide Lebensgefühle authentisch ansprechen kann, vielleicht schon.

Die neue Vorsitzende der SPÖ ist politisch nach wie vor ein unbeschriebenes Blatt. Ob sie nur ein großes Versprechen ist oder das Geschäft der Politik auch tatsächlich beherrscht, ist offen. Von daher hat Rendi-Wagner alle Chancen, wobei die SPÖ das volle Risiko trägt. Allein, dass sich die Partei darauf einlässt, zeigt, wie ernst die Situation ist.