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Johnsons Kalkül geht auf

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© WZ

Normal würde man jede andere Regierung nach diesem Chaos davonjagen.


Fast, fast ist es nun vollbracht: Nach dem grundsätzlichen Ja einer Mehrheit im britischen Unterhaus zum neu verhandelten Brexit-Abkommen mit den EU-27 gibt es nun auch eine erstaunlich breite Einigung auf vorgezogene Neuwahlen in der zweiten Dezemberwoche. Boris Johnson wird zufrieden sein.

Der Premierminister hat an den Institutionen des Vereinigten Königreichs gerüttelt und gezerrt, um seinen politischen Willen durchzusetzen. Er hat die Grenzen seiner Befugnisse nicht nur ausgetestet; mit der gerichtlich für unzulässig erklärten Vertagung des Parlaments hat er sie sogar übertreten. Und als es darum ging, die EU dem Gesetz entsprechend um einen weiteren Brexit-Aufschub zu ersuchen - etwas, von dem er zuvor gesagt hatte, er würde lieber sterben -, hat er es am Ende doch vorgezogen, weiterzuleben und den Erfordernissen des Rechts zu entsprechen. Demonstrativ widerwillig zwar, aber eben doch.

Trotzdem hat Johnson alle Chancen, als Sieger aus den Neuwahlen im Dezember hervorzugehen. Das klingt paradox, wenn man sich das Chaos vor Augen führt, das die Entscheidung für den Brexit über das Land hereinbrechen hat lassen. Und für dieses Chaos tragen die regierenden Konservativen im Allgemeinen und Johnson im Besonderen einen Großteil der Verantwortung. Der Brexit war für Johnson kein politisches Anliegen, sondern nur die Leiter, auf der er es bis ganz nach oben schaffen konnte. Ein vernichtenderes persönliches Urteil über einen Politiker ist kaum vorstellbar. Normal wäre, dass ein solcher Politiker, eine solche Partei bei den nächsten Wahlen von einer satten Mehrheit der Bürger aus dem Amt gejagt würde. Aber im Großbritannien des Brexit ist nichts normal. Und deshalb hat Johnson intakte, ja sogar gute Chancen, nach den Wahlen weiterregieren
zu können.

Aus heutiger Sicht spricht nichts dafür, dass die Bürger die Neuwahlen zu einer Abstimmung über den Brexit machen werden. Außer den beiden pro-europäischen Kleinparteien, den Liberalen und den schottischen Nationalisten, plädiert niemand explizit für einen Verbleib in der EU. Die Schotten hoffen sogar, dass ihnen der Vollzug des Brexit die ersehnte Unabhängigkeit von England bringen wird.

Entscheidend für Johnsons Chancen ist jedoch, dass er wohl die Brexit-Partei des Anti-EU-Aktivisten Nigel Farage durch sein Abkommen mit den EU-27 an den Rand zu drängen und so die Stimmen der austrittswilligen Briten auf die Konservativen zu vereinen vermag. Und perfekt wird dieses Glück des Opportunisten durch die Orientierungslosigkeit von Labour mit Jeremy Corbyn als Spitzenkandidaten.