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Was wir verdrängen

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© WZ

Alle Probleme der Vor-Corona-Zeit sind nach wie vor vorhanden und ungelöst.


Die Pandemie hat uns fest im Griff. Andere Themen sind aus den Schlagzeilen verbannt, aber deshalb nicht einfach verschwunden. Im Folgenden ein Überblick, welche Themen keine oder viel zu wenig Öffentlichkeit bekommen:

Es bleiben nur noch neun Monate für einen Deal zwischen der EU und Großbritannien. Andernfalls kommt es zu einem Brexit ohne Abkommen. Premier Boris Johnson, derzeit mit Covid-19 in Quarantäne, hat die Wahl mit dem Versprechen gewonnen, den Brexit zu erledigen. Eine neuerliche Verlängerung der Übergangsfrist hat er ausgeschlossen. Womöglich wäre jetzt, wo auch die Insel alle Kräfte gegen die Pandemie mobilisiert, eine gute Gelegenheit, die Krot zu schlucken und um Verlängerung anzusuchen. Womöglich hätten sogar die Brexit-Fans Verständnis.

In den USA sollte eigentlich Wahlkampfstimmung herrschen. Im November - wenn die Pandemie es zulässt -, stehen US-Präsidentschaftswahlen an. Doch während Donald Trump dank Corona omnipräsent ist, fehlt von seinem präsumtiver Herausforderer Joe Biden jede Spur. Eine Wahl ohne Wahlkampf ist generell ein Problem, aber noch viel mehr, wenn es sich dabei um das mächtigste Land der Welt handelt.

In Syrien und im Jemen gehen die blutigen Kriege mit unverminderter Härte weiter. Im Süden auf der Arabischen Halbinsel geht der saudische "Blitzkrieg" in sein sechstes Jahr. Aktuell lanciert die Allianz der Saudis einen Angriff auf Jemens Hauptstadt Sanaa als Vergeltung für einen Raketenangriff der vom Iran unterstützten Houthi-Rebellen auf zwei saudische Städte. Wehe, wenn auch noch das Virus diese Elendsregionen mit voller Wucht befällt. Das gilt übrigens auch für Nordkorea, wo das Regime ungestört weiter atombombenfähige Raketen testet. Afrika und seine 1,2 Milliarden Menschen scheinen überhaupt aus unserem Bewusstsein verschwunden.

Apropos Iran: Schwer verspätet erfolgte nun die erste Transaktion auf der vom Iran und der EU aufgestellten Tauschbörse Instex. Möglicherweise ein großer Schritt für Europa: Der Zweck von Instex ist es, das Monopol von US-Zahlungsplattformen zu brechen, mit denen die USA unliebsame Staaten vom internationalen Zahlungsverkehr ausschließen und Druck auf nicht kooperierende Staaten und Firmen ausüben.

2020 hätte übrigens ein Jahr sein sollen, an dem die EU nicht - nach Finanzkrise, Migration und Brexit - ein weiteres Mal nur ein Getriebener statt ein Akteur ist. Vor allem in der Klimaschutzpolitik wollte man in Brüssel Akzente setzen, zum globalen Rollenmodell werden. Davon ist jetzt keine Rede mehr. Stattdessen wird 2020 erneut ein Krisenjahr, das die EU-Staaten voll in Beschlag nimmt und die EU-Institutionen nur hinterherhecheln lässt.