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Baerbocks Fall und Lehren

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© WZ

Die nächsten Wochen werden ein Stresstest für die Bundespolitik- fähigkeit der deutschen Grünen.


Die größte Gefahr lauert in der Politik im eigenen Lager. Deshalb fürchten Spitzenpolitiker wenig so sehr wie einen vernichtenden Kommentar in einem der eigenen Weltanschauung verbundenen Medium. Wie gut und ob überhaupt ein solch kategorischer "Daumen hoch"- und "Daumen runter"-Aktivismus ins mediale Portfolio passt, ist Gegenstand fruchtbarer, aber endloser Debatten über das journalistische Selbstverständnis, es ändert nur nichts an der Wirkmächtigkeit solcher öffentlichen Interventionen in die Angelegenheiten einer Partei.

In Deutschland macht Annalena Baerbock, die grüne Kanzlerkandidatin, gerade Bekanntschaft mit dieser Form von medialer Unerbittlichkeit. Das "friendly fire" kam zu Wochenbeginn aus dem Schützengraben der linksalternativen und vehement feministischen Zeitung "taz". Diese hat der einzigen Frau in der Riege der Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl Ende September geradeheraus attestierte, für den Job der Kanzlerin rundum ungeeignet zu sein. Jetzt oder nie mehr müssten die Grünen deshalb auf Robert Habeck setzen, den Co-Vorsitzenden und eigentlichen Kanzlerkandidaten der stimmenmaximierenden Vernunft aus Sicht vieler angesichts der Pannen und Fehler Baerbocks.

Es gibt gute Gründe, dieser Analyse zuzuneigen. Habeck war der durch eine breite Öffentlichkeit abgehärtetere Kandidat, während sich die Vermutung einer Kanzlertauglichkeit Baerbocks vor allem dem öffentlich geteilten Insiderwissen einiger grüner Funktionäre verdankte (mehr als eine Vermutung kann es allerdings auch bei allen anderen Kandidaten nicht sein).

Die nächsten Wochen werden also ein Stresstest für die Bundespolitikfähigkeit der deutschen Grünen. Ihr Traum von der Kanzlerschaft ist nicht gänzlich unwirklich, aber eben doch ein Produkt von Sehnsüchten und Projektionen (dass sich auch daraus handfeste Politik bauen lässt, zeigt das Beispiel eines grünen Ministerpräsidenten im katholisch-konservativ-industriellen Baden-Württemberg). Für die Grünen steht viel auf dem Spiel: Wie sollen die Wähler einer Partei die Geschicke des Landes anvertrauen, wenn sie nicht einmal bei der Auswahl ihrer wichtigsten Personalie seit Jahrzehnten selbst richtig liegt?

Die zweite spannende Frage, die weit über die Grünen hinausreicht, zielt auf das Naheverhältnis zu Medien ab. Wer hier über die Lizenz zum Politikmachen verfügt, sollte eigentlich allen klar sein. Doch manchmal verschwimmen die Frontlinien zwischen demokratisch legitimierter Politik und journalistischem Aktivismus. Das macht die Sache spannend, die meisten Bürgerinnen und Bürger hätten aber wohl lieber klare Verhältnisse.