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Johnson unter Druck

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© WZ

Der Brexit hat das britische Luftschloss vom Geldbrunnen nicht erfüllt. Jetzt müssen die Abgaben steigen.


Es war die Milchmädchenrechnung aller Milchmädchenrechnungen: "Wir schicken der EU jede Woche 350 Millionen Pfund. Lasst uns lieber den NHS finanzieren", tönte 2016 Boris Johnson, oberster Brexit-Kämpfer und heute britischer Premier, am Höhepunkt der Kampagne für den EU-Austritt. Fünf Jahre später zwingen der Brexit und die Pandemie Johnson, sich selbst Lügen zu strafen und die Sozialversicherungsabgaben auf Arbeit zu erhöhen.

Der NHS, das ist das nationale Gesundheitssystem (National Health Service) und der Briten ganzer Stolz, weil er seit seiner Gründung 1948 alle Patienten gratis versorgt. Auch diese Erzählung ist eine schöne Selbsttäuschung. Tatsächlich sind die Leistungen des NHS nicht kostenlos, sondern werden aus dem allgemeinen Steuertopf beglichen. Aber der Gesundheitsdienst ist dennoch ein Symbol für den Gemeinschaftssinn des ansonsten auseinanderdriftenden Königreichs. Eben weil der NHS seine besten Zeiten schon länger hinter sich hat, verfiel Johnson 2016 auf die geniale Idee, eine Verbindung zwischen den NHS-Nöten und dem Brexit herzustellen, die simpler nicht hätte sein können: Wenn Brexit, dann Geldsegen - und schon wären alle Probleme gelöst.

Zweifellos haben die enormen Kosten der Pandemie die innenpolitische Kalkulation Johnsons auf den Kopf gestellt. Sars-CoV-2 offenbart die Schwächen des Gesundheitssystems, die vom Brexit zuvor schon akzentuiert wurden. Um sein Verspechen zu halten, das morsche Gesundheitssystem zu sanieren, muss Johnson nun die Kernidentität seiner Tories als Steuersenkungspartei preisgeben. Für die klassische Klientel der Konservativen sind Steuer- und Abgabenerhöhungen ein No-Go. Doch Johnson ist dabei, die Tories aus dem alten Links-Rechts-Schema herauszuführen und entlang jener kulturellen Konfliktlinien neu auszurichten, die bereits für eine Brexit-Mehrheit gesorgt haben.

Doch so einfach schält sich eine altehrwürdige Partei nicht aus ihrer Haut. Belegt ist jetzt, dass der Brexit keine Milliarden in die Kassen des Schatzkanzlers spült. Aber Corona verschafft Johnson eine Ausrede. Dass er einmal mehr mit Unwahrheiten Politik betrieben hat, wird ihn allein nicht zu Fall bringen. Sein Zug stürzt vor allem die oppositionelle Labour-Partei in ein Dilemma, indem er macht, was diese stets fordert: die Abgaben erhöhen.

Dass es jedoch ausgerechnet die Arbeitskosten sind, die doch in der Ära der Digitalisierung eigentlich entlastet werden sollten, zeigt, wie wenig inhaltliche Erneuerungskraft im Wahlkämpfer Johnson steckt.