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Geschichte ohne Getöse

Von Thomas Seifert

Leitartikel

Eine Welt der Deglobalisierung ist ein schlechtes Umfeld für die EU.


Manche historischen Momente kündigen sich mit Getöse an - in Berlin fällt die Mauer, in New York fallen zwei Türme.

Diese zwei Ereignisse sind die zwei Lesezeichen, die ein Kapitel der jüngsten Zeitgeschichte begrenzen: das Zeitalter des überschäumenden Optimismus und des Überschwangs grenzenloser Globalisierung. Alles schien denkbar: Russland trat sieben Jahre nach dem Mauerfall den G7 der westlichen Wirtschaftsmächte bei, aus der Gruppe der großen Sieben wurden so die G8. Und China trat 2001 der Welthandelsorganisation WTO bei und wurde in das Weltwirtschaftssystem integriert.

Manche historischen Momente kommen aber weder laut noch aufdringlich daher, sondern schleichen sich fast schon unauffällig in die Zeitchronik ein. Erst in der Rückschau zeigt sich, dass sich in einer bestimmten Zeitspanne die Dinge grundlegend verändert haben.

Die Covid-19-Pandemie liefert eine einschneidende historische Markierung, es gibt ein klares Davor und Danach. Der Deglobalisierungsprozess, der bereits spätestens mit US-Präsident Donald Trump eingesetzt hat, hat weiter an Fahrt aufgenommen. Logistikketten wurden unterbrochen, Warenströme versiegten, und der Kontakt zwischen den Menschen auf verschiedenen Kontinenten wurde für einige Monate so gut wie abgeschnitten. Europäer brauchen noch bis November eine Sondergenehmigung, um in die USA einreisen zu dürfen, Reisende in die Volksrepublik China müssen sich auf einen längeren Aufenthalt in einer Quarantäneunterkunft gefasst machen.

Europa hat sich in Zeiten von Covid-19 als offenste Gesellschaft erwiesen: So wurden weder die Grenzen für Reisende dauerhaft geschlossen, noch hat die EU mit Exportstopps verhindert, dass Covid-Impfstoffe außerhalb Europas geliefert wurden. Die EU hat sich zwar am Beginn der Impfkampagne schwere Fehler geleistet, aber letztlich sollte die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen recht behalten: Sie betonte stets, die Pandemie sei kein Sprint, sondern ein Marathon. Die hohe Durchimpfungsrate in der EU bestätigt das - unter allen vergleichbaren globalen Mächten ist sie in der Europäischen Union am höchsten.

Doch freilich: Der Aufstieg der EU fällt ebenfalls in die Zeit zwischen 1989 und 2001 - die Zeit zwischen dem Mauerfall und dem Fall der Türme (in diese Zeit fielen auch die Beitrittsverhandlungen der Osterweiterungsländer). Eine Welt der weiteren Deglobalisierung und der Frontstellung zwischen ihren wichtigsten Überseehandelspartnern - USA und China - ist kein gutes Umfeld für die EU. Dieser Realität müssen die EU-Mitgliedsländer ins Auge blicken und näher zusammenrücken.