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Rede zur Krise der Union

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© Luiza Puiu

Europa muss, weil nationale Regeln nicht mehr reichen, als Krisenfeuerwehr liefern; und das schnell.


Krisen haben in den vergangenen Jahrzehnten überzeugte Europäer oft schlecht schlafen lassen. Die Sorge um den Fortbestand der Union ist den meisten Vertretern dieser Spezies zur zweiten Natur geworden, deshalb deren oft drängend sorgenvoll appellierender Grundton. Dabei könnte, wer die Geschichte der EU näher betrachtet, durchaus auch zum gegenteiligen Schluss kommen.

Tatsächlich hat, bisher jedenfalls und mit der nennenswerten Ausnahme des Brexit, noch jede Krise letzten Endes zu einem verstärkten Zusammenhalt geführt. Das erahnte auch Jean Monnet, einer der Gründerväter der EU, als er die Logik der Integration so formulierte: "Europa wird in Krisen geschmiedet werden, und es wird die Summe der zur Bewältigung dieser Krisen verabschiedeten Lösungen sein."

An diese Selbstgewissheit legt eine verstörende Wirklichkeit gerade ihre Axt an. Der Ukraine-Krieg verstärkt einen vermaledeiten Trend von explodierenden Energiepreisen und Inflation, der - abgesehen von Russland und der Ukraine - niemanden unter den entwickelten Industriestaaten der Welt härter trifft als die Europäer. Und weil keine Aussicht auf baldige Besserung besteht, droht der EU der Verlust ihrer globalen Wettbewerbsfähigkeit. Ohne Export schmilzt die Idee des europäischen Wohlfahrtsmodells wie die Gletscher im Angesicht des Klimawandels.

Das ist, in aller gebotenen Kürze zusammengefasst, das Szenario, vor dem EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch vor den Abgeordneten des EU-Parlaments und der Weltöffentlichkeit die bereits traditionelle Rede zur Lage der Union hält. Beschwörungen zur Geschlossenheit und Hinweise auf die Vergangenheit werden nicht reichen. Von der Leyen muss vermitteln, dass die EU einen Plan hat; die Menschen - und mit ziemlicher Sicherheit auch die Politiker in den Mitgliedstaaten - wollen Antworten hören: auf die kurzfristige Versorgungs- und Preiskrise bei Strom und Gas, auf die mittelfristige Gefahr für die Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandorts, auf die langfristige Frage der Sicherung des europäischen Wohlstandsmodells.

Das sind viele Tonnen Gewicht auf den Schultern einer Frau an der Spitze einer Behörde, die so wie die nationalen Regierungen von der Wucht der Ereignisse gegen die Wand gedrückt wird.

Es ist bezeichnend, dass auch die ansonsten verlässlich vorpreschende deutsch-französische Lokomotive seit Monaten durch Abwesenheit glänzt. Nationale Regelungen können das Feuer nicht mehr löschen. Europa muss als Krisenfeuerwehr einspringen und den Handlungsrahmen neu abstecken, und das schnell.