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Maximale Duldsamkeit

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© Luiza Puiu

Parlamentarismus verlangt, den Rahmen für Dissens so weit zu fassen, dass er die Schmerzgrenze der Macht erreicht.


Einmal noch, aus Anlass der Wiedereröffnung des generalsanierten Hohen Hauses, zum Parlamentarismus: Dieser verlange, so hat es der ehemalige deutsche Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble in seiner Festrede am Donnerstag formuliert, ein "maximales Maß an Duldsamkeit". Womöglich hatte der alte Fuchs da auch schon die mittlere Erregung im Hinterkopf, die bei einigen Abgeordneten ob seiner Lust, mit ein paar Spitzen gegen den Zeitgeist (Gendersternchen, Klimapanik) auszureiten . . .

Tatsächlich kommt diese Aufforderung einer Provokation gleich. Diese richtet sich, zumindest verstehe ich es so, an die Idee und die Institutionen des Parlamentarismus: Es geht darum, den inhaltlichen (und manchmal wohl auch den stilistischen) Rahmen für Dissens so weit zu fassen, dass er an die Schmerzgrenze der jeweils entgegenstehenden Seite heranreicht. Das ist eine Voraussetzung, dass die politische Auseinandersetzung, das Austragen der zwingend bestehenden Interessengegensätze zum wesentlichen Teil im Parlament und den Institutionen der Demokratie stattfindet und nicht außerhalb.

Die Duldsamkeit der Institution stellt im Übrigen sicher, dass die Parteien als Kontrahenten eben kein oder jedenfalls nur ein minimales Verständnis für den politischen Gegner aufbringen müssen. Sie ermöglicht es tatsächlich erst, dass die bestehenden gesellschaftlichen Konflikte überhaupt mit gewaltfreien Mitteln ausgetragen werden können. Dass die Duldsamkeit der Institution erst die Bühne ermöglicht, auf der die Parteien in ihrer je eigenen Engstirnigkeit leben können, ist, so hat es den Anschein, mitunter nicht einmal allen Parlamentariern selbst so richtig bewusst.

Die größere Last an Zumutungen haben dabei verlässlich die Mächtigen beziehungsweise hat die Mehrheit zugunsten der Ohnmächtigen und Minderheit zu (er-)tragen. Eine solche Haltung fällt umso leichter, je realistischer die Aussicht auf einen absehbaren Machtverlust ist. Dieser ist, zumindest auf Bundesebene, mittlerweile in halbwegs regelmäßigen Abständen gewährleistet (die ununterbrochene Regierungsbeteiligung der ÖVP seit 1986 sticht hier dennoch heraus), in den meisten Ländern ist dieses Denken noch immer deutlich unterentwickelt.

Das Problem ist, dass auch das Gebot zur Duldsamkeit nicht die Voraussetzungen schaffen kann, auf deren Grundlage es existiert. So gesehen ist Parlamentarismus notwendigerweise das Spiegelbild der Gesellschaft, die zu organisieren er den Anspruch hat. Und das wiederum nimmt jede und jeden Einzelnen in die Pflicht.