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Drohnen über dem Kreml

Von Thomas Seifert

Leitartikel

Der mysteriöse Angriff auf den Kreml wirft Fragen auf.


Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit. "Vergangene Nacht hat das Regime in Kiew einen Drohnenangriff gegen die Residenz des Präsidenten der Russischen Föderation im Kreml gestartet", lautet der Tweet des russischen Außenministeriums. Ein Video zeigt, wie ein Objekt über den Dächern des Kreml explodiert. Laut russischen Angaben wurden zwei ukrainische Drohnen abgeschossen.

Doch was ist tatsächlich passiert? Hat die Ukraine es tatsächlich geschafft, eine Drohne über hunderte Kilometer russisches Staatsgebiet fliegen zu lassen, um einen Angriff auf das Herz des Staates - den Kreml - durchzuführen, vielleicht gar mit dem Ziel eines sogenannten Enthauptungsschlags, also eines Attentats auf Präsident Wladimir Putin? Oder war das ganze eine "False Flag"-Operation, also eine Desinformationsinszenierung, die man der Ukraine in die Schuhe schieben will?

Die Geschichte kennt eine Reihe solcher Beispielen: Der Überfall angeblicher polnischer Freischärler (in Wahrheit SS-Leute) auf den deutschen Sender Gleiwitz am 31. August 1939 diente Adolf Hitler als Vorwand für den Angriff auf Polen. 1964 rechtfertigten die USA mit dem sogenannten Zwischenfall im Golf von Tonkin die Eskalation des Vietnam-Kriegs. 1999 starben bei Anschlägen auf Wohnhäuser in Moskau, Buinaksk und Wolgodonsk 307 Menschen, und die russische Führung benannte tschetschenische Terroristen als Drahtzieher der Anschläge, während zugleich der Verdacht auf den russischen Geheimdienst FSB fiel. 2003 hieß es, der irakische Diktator Saddam Hussein habe Massenvernichtungswaffen und müsse daher gestürzt werden, doch nach der US-Invasion wurden nie welche gefunden. Diese Beispiele sollten Warnung genug vor voreiligen Schlüssen sein.

Schon eher sind in solchen Fällen Cui-Bono-Analysen hilfreich: Wenige Tage vor den alljährlichen Zweiter-Weltkrieg-Siegesfeiern in Russland kann der Kreml - der zuletzt Protest gegen den Ukraine-Krieg zu fürchten hatte - nun strenge Sicherheitsmaßnahmen anordnen und liefert die Rechtfertigung für Angriffe auf Ziele mit Symbolwert in der Ukraine.

Sollte tatsächlich die Ukraine hinter dem Drohnen-Schlag stecken, dann wäre das ein militärisches Husarenstück und ein Zeichen sträflichen politischen Leichtsinns zugleich. Das Husarenstück: Einen Drohnenangriff auf den hunderte Kilometer von der russisch-ukrainischen Grenze entfernten Amtssitz des russischen Präsidenten traut den ukrainischen Streitkräften bisher niemand zu. Doch welchen Sinn hat es, dem Kreml eine Rechtfertigung für einen Angriff auf Gebäude der ukrainischen Institutionen zu liefern? Bisher hat die russische Armee das Präsidialamt und die Residenz von Wolodymyr Selenskyj in Kiew verschont. Wird man je erfahren, was wirklich passiert ist?