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Lüge in Theorie und Praxis

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
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Mitunter widerfährt auch Politikern, was nach gängiger Moral eigentlich nie passieren sollte: Sie lügen.

Bevor jetzt der Aufschrei der Empörten erfolgt, sei hinzugefügt, dass es - selten , aber immerhin - gute Gründe geben kann, mit der ungeschminkten Wahrheit hinter den Berg zu halten. Natürlich wurden die europäischen Bürger auf dem Höhepunkt der Eurokrise von ihren Politikern belogen - die brutale Wahrheit hätte die prekäre Situation womöglich noch verschlimmert. Mit Immanuel Kants Idee von der Verantwortungsethik lässt sich das sogar ziemlich gut argumentieren.

Aber natürlich fällt wohl nur eine kleine Minderheit der öffentlich geäußerten Unwahrheiten in diese Kategorie; die überwiegende Mehrheit sind Lügen (worunter auch das bewusste Verlautbaren von Dreiviertel-, Halb- und Viertelwahrheiten fällt), von denen man einen Vorteil, zumindest aber einen Nachteil für den Gegner erwartet. Man kennt das vor allem aus Wahlkampfzeiten, und längst nicht nur. Das ist moralisch schwer verwerflich und zugleich zutiefst menschlich. Aber es ist gar nicht notwendig, diesen Zustand zu dramatisieren: Das Bauchgefühl der meisten Bürger verfügt über genug gesunde Skepsis.

Nur einen Fehler darf kein Politiker begehen: sich selbst zu belügen.

Was nun die bewusste Verbreitung von Unwahrheiten angeht, so bewegt sich die heimische Politik gefühlsmäßig im Durchschnitt zivilisierter Entwicklungsstaaten - nicht besser, aber auch nicht schlechter. Die größere Gefahr liegt im Selbstbetrug.

Trotz hartnäckiger gegenläufiger Stereotype ("krankjammern" gilt fast als Ersatzhandlung für Vaterlandsverrat) neigen wir Österreicher dazu, uns die eigene Realität über Gebühr schönzureden. Die Folgen der Migrationswellen seit den 1960er Jahren für den Bildungs- und Sozialbereich wurden jahrzehntelang schöngeredet wenn nicht gleich ignoriert; das Gleiche gilt für die hierzulande gepflegte Variante der extensiven Landschaftspflege, auch Korruption genannt; und überfällige Strukturreformen werden gleich überhaupt mit dem Argument auf übermorgen verschoben, dass wir im Vergleich ja immer noch gut dastehen.

Wahrscheinlich müssen wir einfach diesen letzten Umstand ausblenden, wenn wir über Politik und ihre Notwendigkeiten reden. Das wäre zwar wieder eine Lüge, aber doch eine zulässige.