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Knappes "Ja" zu Erdoganistan

Von Thomas Seifert

Leitartikel
Thomas Seifert.

Recep Tayyip Erdogan wähnt sich am Ziel: "Die Nation steht aufrecht und geeint da. Der 16. April war ein Sieg für die gesamte Türkei", sagte der türkische Präsident, noch bevor am Sonntag alle Stimmzettel ausgezählt waren. Die Realität sieht freilich anders aus als Erdogans Phantasma: An diesem 16. April haben sich die Türken mit sehr knapper Mehrheit (51,4 Prozent) dafür ausgesprochen, die Verfassung von einer parlamentarischen Demokratie zu einer auf Erdogan zugeschnittenen Präsidialrepublik umzuschneidern. Siege sehen anders aus: Ende 2015 kamen Erdogans klerikal-konservative AKP und die oppositionelle rechtsradikale Nationalistenpartei MHP, die ebenfalls dazu aufgerufen hatte, mit "Evet" ("Ja") zu stimmen, gemeinsam noch auf 61,4 Prozent. Dass Erdogan die Menschen in den Städten nicht mehr hinter sich hat, sollte ihm Sorge bereiten: Immerhin hat der halbstarke Mann vom Bosporus seine politische Karriere einst in Istanbul begonnen. Nun muss er sich auf erbitterten politischen Widerstand in den Städten einstellen: Die Bewohner von Izmir, Istanbul, Ankara, der Küstenregionen und Kurdengebiete haben mit ihrem Votum gegen die Verfassungsänderung einer beispiellosen Regierungspropaganda getrotzt und sind im Klima der nationalen Hysterie, der fiebrigen Paranoia und des argwöhnischem Misstrauens mit ihrem "Hayir" - "Nein" - Risiken eingegangen. Immerhin wurden Proponenten des "Nein"-Lagers von Erdogans Vasallen in die Nähe der Putschisten vom 15. Juli 2016 gerückt. Man sollte nicht vergessen: Seit dem Putschversuch wurden mehr als 50.000 Menschen nach zum Teil abstrusen Anschuldigungen verhaftet, zigtausende Beamte, Offiziere und Professoren wurden aus ihren Ämtern entfernt.

Die sich häufenden Vorwürfe, dass beim Referendum getürkt worden sei, tragen dazu bei, dass diejenigen, die mit "Nein" gestimmt haben, die Legitimität des Votums in Zweifel ziehen werden. Erdogan hat in seiner schrillen Werbekampagne stets betont, wie wichtig es für die Stabilität des Landes doch sei, die Macht in den Händen des Präsidenten zu bündeln. Dieser hauchdünne Sieg der Erdoganisten wird nun aber zu noch mehr Volatilität in der Türkei führen. Dabei sieht der nächste Schritt des Präsidenten vor, die Dosis weiter zu erhöhen: Die Todesstrafe soll wiedereingeführt werden. Damit wäre die Tür nach Europa endgültig zugeknallt. Erdogan führt das Land immer weiter in Richtung Abgrund.