Wien. Karin Simonitsch grüßt bestimmte Menschen nicht. Sie grüßt sie nicht, wenn sie ihnen auf der Straße begegnet. Oder im Restaurant. Oder auf einer Party. Dabei kennt sie diese Menschen. Einige über viele Jahre. Doch sie darf sie nicht grüßen. Sie hat es sich verboten. In ihrem Beruf muss sie diskret sein. Zum Schutz der anderen. Wenn sie sich zu erkennen gibt, kann es den anderen den Job, den Partner oder die Familie kosten. Karin Simonitsch ist Pharmazeutin. Ihr gehört die Marienapotheke in der Schmalzhofgasse im 6. Bezirk.

Es ist ein eklektischer Ort mit wolkenförmigen Deckenlampen, deren Oberflächen mit bunten Verpackungsresten verbrauchter Medikamente bedeckt sind. In den verwinkelten Verkaufstresen schirmen Türme aus ayurvedischen Lippenstiften jedes Gespräch gegen potenzielle Lauscher ab.
Wer warten muss, stöbert in den Regalen. Hier reihen sich biologische Hundeshampoos und sibirische Seifenspender neben isländischen Wundersalben, die Balsam sowohl für müde Augen und spröde Lippen als auch für wunde Hinterteile versprechen. Man könnte meinen, es sei weniger eine Apotheke als ein ausgefallenes Geschenkparadies für die lokale Bobo-Schickeria, die es sich nicht nehmen lässt, sich auch einmal durch eine Gebärdendolmetscherin von Europas erstem gehörlosen Apotheker beraten zu lassen, während sie das Sortiment an Vintage-Pflastern inspiziert. Dabei ist die Marienapotheke mehr als nur eine hippe Wellnessoase experimentierfreudiger Großstädter. Salopp gesagt: Sie ist die Aids-Apotheke der Stadt. Seit Jahrzehnten versorgt sie Menschen, die sich mit dem HI-Virus infiziert haben und an der Immunschwäche leiden.
"Was machst du mit den Woarmen?"
"Viele unserer Kunden sind nicht geoutet, was ihre Krankheit betrifft", erklärt Karin Simonitsch. Deswegen grüßt die 52-Jährige mit den roten Haaren diese Männer und Frauen nur in diesen Räumlichkeiten. Hier, wo sie sich sicher fühlen können, wo keiner verschreckt "HIV positiv" tuschelt und wo man mit den kryptischen A4-Zetteln aus den HIV-Ambulanzen der Stadt zurechtzukommen weiß. Diskret verschwinden die Mitarbeiter in die Hinterzimmer der Apotheke und kommen mit einer blickdichten vollen Tasche wieder zurück. Während die meisten Apotheken die teuren Aids-Medikamente - bis zu 1000 Euro für eine Monatsration - nicht in ihrem Bestand haben, werden sie in der Schmalzhofgasse schon seit den 1990ern hinter dem Tresen gestapelt.
"Das Thema hat mich irgendwie gefunden", erzählt Simonitsch. Sie erinnert sich noch an den Tag im Jahr 1994, als sich ein Mann in die Schmalzhofgasse verirrt hatte. Sein Partner hat Aids, erzählte er ihr, und er würde bald sterben. Er sollte seine letzten Tage nicht im Spital verbringen, sondern zu Hause. Zu dem Zeitpunkt hat Simonitsch gerade begonnen, in der Familienapotheke zu arbeiten. "Ich komme aus einem sehr konservativen Umfeld. Schwule kennenzulernen war schon sehr überraschend für mich", erzählt Simonitsch. Sie bestellte die Medikamente, brachte sie gar persönlich vorbei, da der Patient bettlägerig war und sein Partner ihm keinen Moment von der Seite weichen wollte. Einen Monat lang besuchte sie das Paar. Sie brachte die Medikamente und Lebensmittel, hielt Wache am Krankenbett und hörte sich bei einer Zigarette die Lebensgeschichte der beiden an.
Jeden Tag kam sie vorbei, bis der Mann verstarb. "In der Community hatte sich dann herumgesprochen, dass man in der Marienapotheke gut betreut wird", sagt sie. Für die Marienapotheke begann damit eine neue Ära. Immer mehr HIV-Kranke pilgerten in die Schmalzhofgasse 1. Sie wussten von der jungen Apothekerin, die sie ohne Vorurteile betreuen würde. Ihrer Mutter gefiel das nicht. "Was machst du mit den Woarmen?", hat sie ihre Tochter gefragt. "Ich mache das schon, du brauchst eh keinen zu bedienen", hat Simonitsch ihr nur geantwortet.
Seit dem Jahr 2010 gehört ihr die Apotheke, die einst ihrer Mutter und davor ihrer Großmutter gehörte. Heute ziert sich keiner der 45 Mitarbeiter der Marienapotheke, einen HIV-Kranken zu bedienen. Es gehört zum Brand der Apotheke. Nicht umsonst findet man hier an den Verkaufsschaltern Accessoires wie aufklebbare Wimpern und Tattoos für den Lifeball am kommenden Samstag. Die Apotheke gehört zu den Sponsoren der Veranstaltung. "Das ist ein Society-Event. Man sieht kaum Betroffene unter den Gästen. Die können sich die Karten auch nicht leisten", kritisiert Simonitsch.
Nicht attraktiv für Ärzte, HIV-Patienten zu betreuen
Rund 10.000 bis 15.000 Menschen in Österreich tragen das HI-Virus in sich. Bei knapp 3800 Menschen liegt eine Aids-Erkrankung vor. Mehr als die Hälfte von ihnen - 55,6 Prozent - lebt in Wien. Sie alle kennen die Marienapotheke. Sie ist Teil von Wiens Aids-Infrastruktur. Einer Infrastruktur, die langsam an ihre Grenzen kommt. Denn die Zahl der zu behandelnden Personen steigt. Jedes Jahr werden rund 500 neue Diagnosen gestellt, währen die Zahl jener, die an Aids sterben, dank besserer Therapien sinkt. Sind 1994 noch 107 Männer und Frauen in Wien an Aids gestorben, waren es 2012 nur noch drei Personen. Damit wird der Pool der zu betreuenden Personen von Jahr zu Jahr größer.